„Winterreise/Winterreise“, nächste Vorstellung am 24. Oktober um 19.30 Uhr, www.schauspiel-leipzig.de
Eiskalte Präzision
Das Schauspiel Leipzig verknüpft Schuberts und Jelineks „Winterreise“. Trotz einiger Längen gibt es viele starke Szenen. Eine Bühnenkritik von Mathias Schulze
„Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh’ ich wieder aus.“ Es gibt Verse, die haben sich im Laufe der Jahrhunderte aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, die wandern als gängige Floskeln durch unser kulturelles Gedächtnis – so stark bündeln sie scheinbar zeitunabhängige Kollektiverfahrungen der Menschheit. Auch „Am Brunnen vor dem Tore / Da steht ein Lindenbaum“ oder „Eine Straße muß ich gehen / Die noch keiner ging zurück“ sind solche Verse, alle zu finden in Wilhelm Müllers (1794-1827) Gedichtzyklus „Winterreise“, den der Komponist Franz Schubert 1827 vertonte. Auch Elfriede Jelineks 2011 veröffentlichter Text „Winterreise“ spielt ganz gegenwärtig mit den altehrwürdigen Motiven, auch da geht es um Isolation und existenzielle Verlorenheit, um das Altern und das Sterben, um Identität und Musik. Schauspiel-Intendant Enrico Lübbe hat die Stoffe nun zusammengezogen, entstanden ist ein mehr als zweistündiger Abend voller poetischer Sprache, berückend intimer Musik (Leitung: Jürg Kienberger), eiskalt-präzisen Bildern und leider auch ein wenig Redundanz. Die Bühne ist unter der Gestaltung von Etienne Pluss ein Sammelsurium der Jahrhunderte, da gibt es die eintönige Bürokleidung, die auch auf die als Eiszeit empfundene Metternich-Ära und damit auf die Unterdrückung von Demokratie, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit im 19. Jahrhundert verweist. Es weht ein Hauch von Biedermeier und modernen Industriegesellschaften durch all die Plüschröcke und Einheitskleidungen, die die Einsamkeit nicht aufheben können. Ist die Wirklichkeit zu schmerzhaft, kann eine Flucht ins Innere Seelenheil versprechen. Da steht ein Klavier und eine Seilbahnstation, da monologisieren die Verhuschten über die Zeit, über die gebrochenen Versprechen des Einfamilienhauses und des Massentourismus. Großartig ist es, wie jeder für sich allein stakst, sitzt, rutscht, wandert oder stolpert. Julius Forster, Ellen Hellwig, Franziska Hiller oder Tilo Krügel spielen wunderbar aus der Zeit gefallene Monaden, deren Entpolitisierung zu Isolation und Wahnsinn führt. Nicht umsonst heißt die aktuelle Schauspiel-Spielzeit „Gefühlte Wirklichkeiten“. Großartig ist es, wie Denis Petković, Jule Roßberg, Miloslav Prusak oder Julia Berke nur im Chorgesang, nur in der Kunst, zueinanderfinden. Ansonsten herrscht der Schmerz und der Tod. Eiswinde, Kunstschnee, Sprachkaskaden, Videoprojektionen, Licht- und Schattenspiele, dauertropfende Gletscher und Slapstick runden ein musikalisches Stück ab, das nicht ohne Längen, aber auch mit vielen starken Szenen gesegnet ist.
Text: Mathias Schulze