Winterreise/Winterreise, 3. und 30. Dezember, Schauspiel Leipzig, jeweils 19.30 Uhr, www.schauspiel-leipzig.de
Ein musikalisches Stück mit Längen, aber vor allem mit vielen starken Szenen. Das Schauspiel Leipzig verzahnt unter der Regie von Enrico Lübbe, Wilhelm Müller, Franz Schubert und Elfriede Jelinek zu dem Stück „Winterreise/Winterreise“
„Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh’ ich wieder aus.“ Es gibt Verse, die haben sich längst aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, die wandern durch unser kulturelles Gedächtnis – so stark bündeln sie scheinbar zeitunabhängige Kollektiverfahrungen. Zu finden sind die Zeilen in Wilhelm Müllers (1794–1827) Gedichtzyklus „Winterreise“, den Franz Schubert 1827 vertonte. Auch Elfriede Jelineks 2011 veröffentlichter Text „Winterreise“ spielt ganz gegenwärtig mit den altehrwürdigen Motiven, auch da geht es um Isolation und existenzielle Verlorenheit, um das Altern und das Sterben, um Identität und Musik. Leipzigs Schauspiel-Intendant Enrico Lübbe hat die Stoffe nun zusammengezogen, entstanden ist ein mehr als zweistündiger Abend voller poetischer Sprache, berückend intimer Musik (Leitung: Jürg Kienberger), eiskalt-präzisen Bildern und leider auch ein wenig Redundanz. Die Bühne ist unter der Gestaltung von Etienne Pluss ein Sammelsurium der Jahrhunderte. Da gibt es die eintönige Bürokleidung, die auch auf die als Eiszeit empfundene Metternich-Ära und damit auf die Unterdrückung von Demokratie, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit im 19. Jahrhundert verweist. Ist die Wirklichkeit zu schmerzhaft, kann eine Flucht ins Innere, Seelenheil versprechen. Da steht ein Klavier und eine Seilbahnstation, da monologisieren die Verhuschten über die Zeit, über die gebrochenen Versprechen des Einfamilienhauses und des Massentourismus. Großartig ist es, wie jeder für sich allein stakst, sitzt, rutscht, wandert oder stolpert. Julius Forster, Ellen Hellwig, Franziska Hiller oder Tilo Krügel spielen wunderbar aus der Zeit gefallene Monaden, deren Entpolitisierung zu Isolation und Wahnsinn führt. Großartig ist es, wie Denis Petkovic, Jule Roßberg, Miloslav Prusak oder Julia Berke nur im Chorgesang, nur in der Kunst, zueinanderfinden. Ansonsten herrschen Schmerz und Tod. Eiswinde, Kunstschnee, Sprachkaskaden, Videoprojektionen, Licht- und Schattenspiele, dauertropfende Gletscher und Slapstick runden ein musikalisches Stück ab, das nicht ohne Längen, aber auch mit vielen starken Szenen gesegnet ist.
Text: Mathias Schulze