Olav Amende liest aus „abwesenheiten“, am 5. November, 20 Uhr, „Zweitausendeins Leipzig“, Ritterstraße 8–10, und 26. November, 20.30 Uhr, „Textat Leipzig“, Erich-Zeigner-Allee 64, alle Termine: www.olavamende.com
Der Leipziger Autor Olav Amende hat mit dem eindrucksvollen Langgedicht „abwesenheiten“ ein Stadt- und Zeitporträt der besonderen Art geschrieben
Was sind künstlerische Experimente? Dass sie kein Selbstzweck sein sollten, zeigt das Langgedicht „abwesenheiten“ von Olav Amende, das im Verlag „parasitenpresse“ erschienen ist. Amende spielt auf 68 Seiten mit Wörtern, Zeilenumbrüchen oder Interpunktionen.
Großartig, wie sich aus diesem Spiel mit unserem Sprachverständnis etwas Atmosphärisches, etwas kaum Beschreibbares entwickelt. Hier gibt es kein lyrisches Ich, hier reihen sich scheinbar hingeworfene Beobachtungen aneinander, die bei all jenen Dingen, Tätigkeiten, Vorgängen oder Naturphänomenen verweilen, denen wir in alltäglicher Routine keine Aufmerksamkeit widmen.
Ein Stadtleben setzt sich aus unendlich vielen Welten zusammen. Das reicht vom Krümel eines Zupfkuchens über leere Stadtpark- bänke bis zum weggeworfenen Kaffeebecher. Wer vom Stadtmarketing-Gedöns genug hat, wer sein Leipzig mal ganz anders sehen möchte, ist bei Amende genau richtig.
Natürlich transzendieren die Beobachtungen eine lokale Verortung. Jede Metropole kann gemeint sein. Dennoch ist Leipzig hinter all dem Notierten erkennbar. Das Dampfen der Gräser, das verwegene Eigenleben der Pappkartons auf den Straßen, die Geräusche der Jogger, die sozialen und kulturellen Verschiedenheiten: Alles wird so minutiös und doch mit wenigen Strichen so beschrieben, dass unsere alltägliche Wahrnehmung stark verschoben, erfrischt und befreit wird. Wir sehen das alles jeden Tag, trotzdem fokussieren und erkennen wir es nie. Amende schenkt uns einen neuen Blick.
Gegliedert ist das Langgedicht in zwei Teile. Beobachten die „reflexionen“ das Unbelebte, stellt der zweite Teil unter dem Titel „echos“ die menschlichen Handlungen in den Vordergrund. Wunderbar, wie zwischen den Teilen Verbindungen hergestellt werden. Noch wunderbarer ist es, dass wir in einen Stillstand, in eine Ruhe und in einen Frieden entführt werden.
Erinnern Sie sich noch an den ersten Lockdown, als die Autos weniger wurden, als die Natur fühlbarer zu atmen begann? Ein flüchtiger Moment, der etwas Utopisches hatte. Nicht umsonst endet das Gedicht mit einer Zeitangabe: „2020–2021“.
Einzelne Verse braucht man nicht zu zitieren, Amende hat mit seinem Sprachexperiment ein beeindruckendes Stadt- und Zeitporträt geschaffen, das als Ganzes gelesen eine einmalige Stimmung konserviert. Utopien sind nur denkbar, wenn sie im Herzen getragen werden.
Text: Mathias Schulze