Die 39 Stufen, 23. bis 28. August, Leipziger Anker, 20 Uhr, Sonntag ab 18 Uhr, alle Infos: www.anker-leipzig.de
Im Innenhof des Leipziger Ankers läuft eine Sommertheater-Produktion namens „Die 39 Stufen“, die noch vom 23. bis 28. August zu sehen ist. Frei nach einem Roman von John Buchan und dem Film von Alfred Hitchcock gelingen viele Szenen, eine sollte sogar in die Geschichtsbücher des Ankers eingehen. Eine Rezension von Mathias Schulze
Sommertheater. Das ist nicht nur ein Wort, das ist ein feststehender Begriff. Und er imaginiert etwas, das derzeit wie Frevel anmutet. Sommertheater – das klingt wie Leichtigkeit, wie luftige Kleider, Sternenhimmel und reife Erdbeeren. Sommertheater – das klingt wie Sonne im Gemüt. Doch leben wir nicht gerade in eine Zeit, die …? Ach, lassen wir das! Aber was ist, wenn sich – wie zur Premiere am 1. Juli geschehen – die Regenwolken anmelden? Dann geht’s halt rein in die altehrwürdigen und mittlerweile picobello herausgeputzten Gemäuer des „Ankers“. Wer – wie das soziokulturelle Zentrum im Stadtteil Möckern – schon 150 Jahre auf dem Buckel hat, lässt sich so leicht nicht aus der Ruhe bringen. Dann werden „Die 39 Stufen“, ein Stück frei nach dem Roman von John Buchan und dem Film von Alfred Hitchcock, eben drinnen gespielt!
Und dort zeigt sich auch ohne unterstützende Freiluftatmosphäre, dass das Anker-Sommertheater unter der Regie von Marco Runge eine Menge sehenswerter Szenen zu bieten hat. Mit Schwung, verschiedensten Hüten, falschen Zähnen und Krawatten schlüpfen Elena Maria Pia Lorenzon, Michael Rousavy, Johanna Schäfer und Armin Zarbock in verschiedenste Rollen. Mehr als ein paar bewegliche Holzkisten, ein bisschen Begleitmusik, ein Lenkrad, ein Fetzen Gardine oder ein Messer braucht es da nicht. Hier liegt der Fokus auf der Schauspielkunst, hier braucht es pfiffige Ideen, die trotz weniger Requisiten eine überzeugende theatrale Wirkung erzeugen. Und genau das hat die Inszenierung reichlich.
Armin Zarbock zeigt als schauspielerisches Kraftzentrum, als Richard Hannay, als ein Gentleman in den besten Jahren, gleich in der erste Szene, dass die Mundwinkel einer Midlife-Crisis bis auf dem Bühnenboden hängen können. Wir sind im Jahre 1935, wir sind in London. Die Kriegsgeräusche der Zeit nimmt Richard zwischen Scotch, Müdigkeit und Langeweile wahr. Um sie ernst zu nehmen, bräuchte es schon ein wenig mehr, als nur das Kreisen um den eigenen Bauchnabel. Und dann trifft er Annabella, die von Elena Maria Pia Lorenzon als laszive Femme fatale gespielt wird. Alsbald hat sie ein Messer im Kreuz, alsbald beginnt Richards Flucht, nun ist er ein gesuchter Mörder. Immer wieder punktet die Inszenierung mit wunderbaren Einfällen.
Beobachtet Richard das Straßentreiben, schiebt er die Mini-Gardine zur Seite. Dann huschen Michael Rousavy und Johanna Schäfer als nächtliche Bedrohung und mit einem Papprohr auf die Bühne, für ein versteckendes Anlehnen an die imaginierte Straßenlaterne bleibt kaum Zeit, zügig müssen sie wieder runter von den Brettern, denn Richard zerrt die Gardine immer schneller auf und zu. Das Stück ist sowohl eine Thriller-Hommage als auch eine Krimi-Parodie. Oft wird mit dem kulturellen Gedächtnis des Publikums gespielt. Das reicht von „Nein!-Doch!-Ohhh!“-Grimassen, von Louis-de- Funès-Erinnerungen bis zu DDR-Anspielungen. Ja, unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer.
Scheinbar kleine Spielereien entfalten eine große Wirkung: Wenn sich jemand die Hände ins Gesicht hält und schreit, trillert punktgenau die Pfeife des Schaffners. Und natürlich können die Holzkisten auch zu einem absurd engen Zugabteil geformt werden. Ebenso können sie in Windeseile ein Zugdach werden, auf dem Zarbock als Richard fliehen muss. Action meets Slapstick. Und natürlich gibt es auch Zeitlupen-Szenen oder Zack-Bumm-Krach-Pantomimen, deren Verbeugung vor Alfred Hitchcock aber immer spürbar ist. Ein Hoch auf die Kunst des Improvisierens! Ein Hoch auf die unzähligen Gesichtsentgleisungen, die Michael Rousavy so zügig aneinanderreihen kann. Es macht Spaß zuzuschauen, wie Maria Pia Lorenzon das Ganze mit Sinnlichkeit auflädt.
Es macht Spaß, wie schnell Johanna Schäfer die Rollen wechseln kann. War sie eben noch eine Bedienstete, ist sie sogleich eine Polizistin. Es ist schön zu sehen, dass und wie die rasanten Rollenwechsel sogar selbst Teil des Schauspiels werden. Die Jacke muss nur ein wenig schräg hängen, die Pfeife muss einfach nur aus dem Mund genommen werden, schon spricht da eine andere Figur. Die Inszenierung, die durchaus auch verzeihbare Sommertheater-Längen hat, lebt von vielen kleinen Einfällen, die in Summe einen unterhaltsamen Theaterabend kreieren.
Herausragend ist dabei eine Szene, in der Armin Zarbock brillieren darf. Als gehetzter und verfolgter Richard, der immerhin noch das Geheimnis der 39 Stufen enthüllen muss, landet er einmal unvermittelt auf einer imaginierten Bühne. Das „Wählt-mich“-Schild muss er schnell entziffern. Um nicht verhaftet zu werden, muss er zügig die Rolle des Politikers annehmen. Also beginnt er mit den üblichen Phrasen. Es folgt ein Monolog, der zu Herzen geht. Es folgt ein sentimentaler Utopie-Entwurf einer friedlichen Welt, der das echte Publikum, das ja immerhin weiß, wie es gerade in der Welt aussieht, zu Begeisterungsstürmen animieren kann. Erinnern Sie sich noch an den Film „Die nackte Kanone“? Erinnern Sie sich noch an das Zitat „Ich möchte eine Welt, in der ich aus einer Toilette trinken kann, ohne Ausschlag zu kriegen“? Man darf Armin Zarbock fortan in einem Atemzug mit dem Schauspieler Leslie Nielsen nennen. Eine Szene zum Einrahmen, eine Szene für die Anker-Geschichtsbücher. Ein schöneres Geschenk zum 150. Geburtstag des soziokulturellen Zentrums muss man erst einmal finden!
Text: Mathias Schulze