Evelyn Richter. Ein Fotografinnenleben, bis 17. März, Museum der bildenden Künste Leipzig, www.mdbk.de
Das Museum der bildenden Künste Leipzig zeigt die Ausstellung „Evelyn Richter. Ein Fotografinnenleben“. Richter zählt zu den ganz Großen ihrer Zunft. Doch worin besteht die Magie ihrer Fotos? Ein Erklärungsversuch
„Evelyn Richter (1930-2021) zählt zu den bedeutendsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Sie porträtierte Menschen und Gesellschaft exakt und feinfühlig in einer eigenen unverwechselbaren Bildsprache.“ Kaum ist man in der Ausstellung mit dem Audioguide verbunden, stellt Jeannette Stoschek, die Leiterin der Sammlung, ein Alleinstellungsmerkmal heraus. Zeit, die Kopfhörer abzunehmen. Zeit, genauer hinzuschauen: Worin besteht das Unverwechselbare?
Zunächst ist darüber zu informieren, dass im Museum der bildenden Künste rund 450 Exponate – über 250 Fotografien und rund 200 Archivalien – gezeigt werden. Detailliert wird über Richters Werdegang unterrichtet. Von Bautzen aus ging es in die Welt, das Studium in Leipzig endet 1955 nach nur zwei Jahren. Richters Bildsprache entsprach nicht der gewünschten Staatspropaganda. Also ging es in die Selbstständigkeit. Zeit, genauer hinzuschauen: Was macht die Fotos so exakt und feinfühlig?
Der Rundgang beginnt mit einer Überraschung: Man schaut in einen großen Spiegel. Das ist mehr als eine Hommage an Richters Selbstporträts. Die Künstlerin, die nie in einem festen Atelier gearbeitet hat, fotografierte sich oft in spiegelnden Flächen des öffentlichen Raumes. Meist verschwand dabei ihr Gesicht, meist wird auch die Umgebung zum Teil des Fotos. Ja, man ist auch immer das Produkt seiner umgebenden Umwelt. Und nun – noch vor dem Betrachten der Schwarzweißund Farbfotografien – muss sich jeder Besucher im Spiegel anschauen. Eine Konfrontation.
Wir alle haben Wunschvorstellungen darüber, wie wir sein möchten, wir alle haben eine Seele, die täglich eine uns schmeichelnde Identität entwirft. Und dann stehen wir vor dem Spiegel, sehen wir uns von oben bis unten. Da ist die Wahrheit! Erkennen wir sie? Halten wir diese Sekunden der Überraschung fest, denn gleich werden uns die Füße weitertragen, gleich wird die Eitelkeit wieder andere Selbstbilder in den Kopf setzen.
Das ist ein schöner Einstieg in eine Schau, die uns fortan Fotos zeigen wird, die gerade wegen der modernen Bearbeitungsmöglichkeiten heutiger Bilder so sehenswert ist. Richters Bildsprache zieht keine Falten glatt, hier hängen die Mundwinkel, hier stehen die Zähne schief, hier sind die Beine krumm. Die Künstlerin hat mit ihrer Kleinbildkamera das nackte Leben der Nachkriegszeit und der DDR eingefangen: Armut und Einsamkeit, karge Landschaften und veraltete Maschinen, trostlose Plattenbauten und die Müdigkeit abwesender Blicke.
Es ist, als würde allein die wild wuchernde Haarpracht ihrer fotografierten Kommilitonen aus dem Jahre 1953/54 so etwas wie jugendliche Vitalität und Kraft ausstrahlen. So durfte ein optimistischer sozialistischer Aufbau nicht aussehen! Doch selbst wenn man alle Spiegel in einem Land von der Wand nimmt – die Wahrheit bleibt, sie überdauert.
Schauen wir auf die Fotos, schauen wir auf Bilder, die von gestellten Posen oder arrangierten Szenen scheinbar nichts wissen wollen. Also sieht man Kinder, die noch in den Kriegsruinen spielen – ihr verschmitzter Blick paart sich mit Leid und Anstrengung. Also sieht man Heranwachsende, denen im Betriebskindergarten der Weihnachtsmann eine Freude machen soll. Das Entzücken in den Gesichtern paart sich mit Angst und Kummer.
Die Fotos erzählen von Ambivalenzen, von Widersprüchen, von der Gleichzeitigkeit konträrer Gefühle. Werden die berufstätigen Frauen der DDR gezeigt, sieht man die harten Arbeitsbedingungen und die Erschöpfung – aber auch die Freude und den Stolz. Es ist, als würde man mehr sehen können, als ein eingefrorener Moment eigentlich hergibt.
Es ist, als würde sich das Foto im Kopf des Betrachters in Bewegung setzen, um eine kleine Geschichte zu erzählen. So hat Richter 1974/75 eine Ballett-Tänzerin eingefangen. Man sieht eine gequälte Künstlerin beim Training. Und doch kann man das Bild nicht anschauen ohne an die Leichtigkeit der künstlerischen Vorstellung zu denken, denn viel zu viel Wille und Durchsetzungskraft strahlt die Tänzerin auch während ihres Leidens aus.
Die Ausstellung zeigt auch Werke von Richters Freundinnen, von Ursula Arnold, Christa Sammler und Eva Wagner-Zimmermann. Und die Schau zeigt, dass das Unverwechselbare von Richters Porträts – seien es nun Arbeiter oder Künstler – auch darin besteht, dass man in ein Gespräch verwickelt wird. Es ist, als würden uns die Porträtierten ansprechen, als würden sie wissen, dass sie sich gerade mit Wahrhaftigkeit offenbaren. Es ist, als würden sie das gleiche nun auch von uns verlangen. Und du so? Sei ja ehrlich! Das macht Richters Bildsprache nicht nur unverwechselbar, sondern auch zeitlos.
Text: Mathias Schulze