Ritus, 8. September, Anhaltisches Theater Dessau, 19.30 Uhr, alle Termine: anhaltisches-theater.de
Das sehenswerte Tanz- und Musiktheater „Ritus“ vom Ballettdirektor und Chefchoreografen Stefano Giannetti, das mit der geistlichen Komposition
„Petite messe solennelle“ von Gioacchino Rossini arbeitet, ist derzeit am Anhaltischen Theater Dessau zu erleben. Es entwickelt sich ein schwer zu
erklärenden Sog. Leichter und beschwingter verlässt man seinen Sitzplatz. Warum ist das so? Ein Erklärungsversuch
Eigentlich ist es paradox. Während auf und vor der riesigen, wunderbar minimalistisch gestalteten Bühne – nur ein weißer Kirchenkuppel-Ausschnitt, ein Flügel und ein Harmonium zu sehen sind – die Tänzer-, Sänger-, Musikerinnen und der Opernchor beeindruckende körperliche Höchstleistungen vollbringen, sitzt das Publikum in den bequemen Stühlen. Die Glückshormone, die den Rezipienten nach der Vorstellung durch den Körper sausen, können also nicht durch eine sportliche Ertüchtigung verursacht sein. Und doch sind sie da – nach 90 Minuten Sitzplatz.
Wie ist das möglich? Im Volksmund nennt man das den überspringenden Funken. Da gibt es all die in weiß gekleideten Tanzenden, die zusammen
mit den Singenden und Musizierenden ein vitales und bewegliches Wimmelbild erzeugen. Hier sind so verdammt viele Künstler am Gelingen beteiligt, dass eine namentliche Hervorhebung unfair wäre.
Und auch das Thema der rituellen Handlungen muss man gar nicht intellektuell erfassen. Es reicht völlig aus, wenn man die erhebende Wirkung der geistlichen Musik durchs Innere vibrieren lässt, wenn man sich der Beobachtung der großen Menschenmasse hingibt. Da ein Stützen und Stoßen, dort ein Streiten und Vordrängeln, hier ein Flirten und Verletzen. Verbundenheit und Einsamkeit. Mal hält man sich liebevoll, mal zeigt man energisch die Ellenbogen. Mal strotzt man vor Kraft, mal ist man hilflos wie ein kleines Baby. Es ist, als würde man dem Ewig-Menschlichem zuschauen. Es gibt keine Handlung, inmitten von Licht – und Schattenspielen ist es wunderbar befreiend, den Geist schweifen zu lassen, den Rhythmus aufzusaugen.
Giannettis „Ritus“ erklärt sich nicht durch den Kopf, das Stück geht in den Bauch, es entwickelt berauschende Bilder, die man entspannt ent-
schlüsseln, interpretieren oder geheimnisvoll lassen kann. Überaus plastische Gefühle strömen von der Bühne – das reicht von Melancholie bis zur
Ekstase. Ohne zwanghaften Gegenwartsbezug drücken wuchtige Chor- und Massenszenen in den Sitz. Das Stück hat eine Dynamik, einen Humor
und einen Flow, der einen beschwingt in die Nacht gehen lässt. Wie das alles geschah? Es ist ein kleines Wunder.
Text: Mathias Schulze