Stephan Krawczyk, 9. November, Literaturhaus Leipzig, 19.30 Uhr, alle Termine der Liedertour in Leipzig und Umgebung unter www.stephan-krawczyk.de
Der Liedermacher, Schriftsteller und ehemaliger DDR-Dissident Stephan Krawczyk, Jahrgang 1955 und geboren in Thüringen, hat dieses Jahr den deutsch-französischen Chanson- und Liedermacherpreis in der Kategorie „Beste deutsche Interpretation“ erhalten. Zu DDR-Zeiten wurde Krawczyk im Jahr 1980 freiberuflicher Sänger. Fortan stieg er zur Symbolfigur in der DDR-Bürgerbewegung auf. Am 17. Januar 1988 wurde er von der Stasi verhaftet, ins Gefängnis gebracht und anschließend in den Westen abgeschoben. Seitdem arbeitet Krawczyk auf musikalischem und literarischem Gebiet, seitdem geht er auf Reisen und Tourneen. Heute lebt der Künstler in Berlin und Mallorca. Und am 9. November kommt er mit einem Ringelnatz-Programm ins Leipziger Literaturhaus. Krawczyk und Ringelnatz, das ist eine enge Verbindung, denn Letzterer wurde von den Nationalsozialisten mit Auftrittsverbot belegt. Und dennoch war Ringelnatz bis zuletzt mit einem beinahe kindlichen Glauben an das Gute gesegnet. Grund genug, bei Krawczyk nachzufragen. Ein Gespräch über neue Buchprojekte, über Freiheit, Geschichte, die Liedertour und das Altern.
Zuerst so: Wie geht es Ihnen, wo wohnen Sie jetzt und was macht den Alltag bei Ihnen aus?
Wie alle Tage. Es gibt Ausnahmen wie heute, wo mich einer fragt, wie es mir geht. Ich lebe mit Marvin, meinem Sohn, zusammen, der ist neunzehn und ein Kämpfer-Typ, so wie ich damals. Allerdings war ich bei der Armee, der NVA, der Nationalen Volksarmee. Er ist frei, weil er sich die Freiheit nimmt. Freiheit muss man sich nehmen. Ich nehme mir die Freiheit, einkaufen zu gehen, den Computer zu bedienen, nachzudenken. „Wen brauche ich so sehr wie mich / niemals lass’ ich mich im Stich./ Ich bin so froh, dass ich mich hab / und folge mir sogar ins Grab.“ Geld will verdient sein. Das dauert. Wären die Umstände günstiger, könnte ich kreativer sein. Das Mäzenatentum ist leider schon längst erloschen. Es war die innere Leuchtkraft begüterter Leute, die der Kunst ergeben waren. Es gibt kein Erkennen mehr. Will man Geld ausgeben, für etwas, das man nicht wenigstens an die Wand hängen kann? Heute muss man Anträge stellen. Ich verpasse es regelmäßig – als hätte es Methode.
Gibt es mittlerweile eine Frage zu Ihrer DDR-Vergangenheit, die Sie absolut nicht mehr hören können, die Ihnen einen Schauer über den Rücken laufen lässt?
Nein, keine Frage zu meiner Vergangenheit verschafft mir dieses Gefühl. Was ich schade finde. Sie fragten mich etwas – und im selben Moment schaudert es mich. Aufregend. Ich erzähle gern, meine Bücher sind lebendig. Letztens fiel mir ein, dass ich mich ganz schön anstrengen muss, um dem Anspruch an das eigene Tun und Lassen, der in meinen Texten steckt, selbst gerecht zu werden – nicht selbstgerecht, nur weil man womöglich keine Zeit mehr zu haben wähnt, den Kurs zu korrigieren. Bald wird ein Buch von mir veröffentlicht über Schicksale in der DDR: „Gelöste Stimmen“. Darin finden wir den Text: „Jenen Generationen anzugehören, die mit der Abkürzung eines verschwundenen Staates abgestempelt sind.“
Ich stelle Ihnen zu eben dieser Vergangenheit auch eine Frage. Wenn Sie so quer durch die Presse- und Autorenlandschaft lesen: Welche Mythen, Irrtümer über die DDR existieren heute noch? Welche stören Sie am meisten?
Schwer zu sagen. Vielleicht der Mythos, dass Sozialismus etwas Gutes sei. Nach hunderten Auftritten an Schulen landauf, landab lässt sich sagen, dass die jungen Leute nur durch direkte und lebendig erzählte Zeitzeugenschaft etwas über Geschichte erfahren, das sie berührt. Man sollte nicht die Wissenschaft bemühen, um den Nachkommen zu erzählen, warum was wie geworden ist. Was wir jetzt sind, fußt darauf, was wir früher waren. Zu verändern, ohne sich bewusst zu sein, wer man ist, bringt nichts, was taugt. Es bleibt der Eindruck, Geschichte ist ein Schnittmusterbogen. Ingeborg Bachmann schrieb: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“
Was interessiert in den Schulen am meisten?
Dass ich im Gefängnis saß, selten mehr. Weniger Fragen zu den Umständen, die dazu führten, dass man mich einsperrte. Nur Höhepunkte sind interessant: Wie ist es, eingesperrt zu sein? Eingesperrt zu sein, ist so besonders, dass es interessiert. Es gibt eine Menge Geschichten, um über den Knast als Erfahrungshorizont hinauszuweisen. Die jungen Leute hören zu. Das ist doch schon was. In Mainz kam eine Schülerin, 11. Klasse, nach der Veranstaltung auf die Bühne und sagte: „Ich wusste immer nicht, was ich mit dem Thema zu tun habe. Jetzt weiß ich es.“ Wir sollten nicht so viele Geschichten aus dem Fernsehen verfolgen, sondern selber erzählen. Oft wissen die Kinder nicht mal, wo ihre Eltern geboren sind. Ich hatte vor Jahren an einer Schule in Pennsylvania, vormittags vor den Kindern in den Klassenräumen und abends in der Aula vor den Eltern erzählt und gesungen. Die Mama eines Jungen aus der Siebten sagte mir, dass ihr Sohn noch nie so viel von sich selbst erzählt hat wie an diesem Tag.
Auf der Seite des Literaturhauses Leipzig bin ich über diesen Satz gestolpert: „Stephan Krawczyk wandte sich vor und nach 1989 vertrauensvoll und warmherzig dem Guten im Menschen zu.“ Haben Sie das geschrieben? Können Sie uns diese Hinwendung, mit allen Umwegen, ein wenig präzisieren?
Den Satz kannte ich nicht. Schön, wenn jemand so etwas über mich schreibt. Ich glaube sogar, der Satz stimmt. Und je älter ich werde, umso mehr. Freilich versuche ich mich vom Hässlichen und Schlechten fernzuhalten. Leider wird es sintflutartig über uns ausgeschüttet. Einem Samstagabend mit Fernbedienung vor dem Fernseher oder auf dem Portal der Streamingdienste muss die gute Laune erst einmal standhalten. Ja, ich halte es mit dem Guten und Schönen und rate, so oft es geht, abzuschalten, nicht den Verstand, sondern die einen umgebenden Maschinen. Aber was soll es? Das sage ich seit Jahrzehnten. In einem Lied, das ich vor sechsunddreißig Jahren schrieb, also in der DDR, heißt es: „Zwischen Haushalt und Antennen müsst’ man die Verbindung trennen.“
Bleiben wir einmal kurz bei den anstehenden Abenden in Leipzig: Was bedeutet Ringelnatz für Sie? Was ist das für eine Liedertour, die Sie ab Dezember beginnen?
Joachim Ringelnatz ist ein Bruder in Geist und Seele, egal wie viele Jahre zwischen uns liegen. Seine Werke berühren zutiefst. Der Ringelnatz-Verein in Wurzen hat mich auf die Idee gebracht, Gedichte des Meisters zu vertonen. Nach dem ersten Gedicht konnte ich nicht mehr aufhören, bis eine ganze CD fertig war.
Und die Liedertour?
Die Liedertour folgt der Idee, dass die Küche ein guter Ort zum Musizieren ist. Das kann ich nur bestätigen. Die Leipziger Band Kaktus, die zu DDR-Zeiten selbst Auftrittsverbot hatte, musizierte irgendwann in der Küche, andere schauten es sich ab, dadurch entstand ab 2004 ein Verbund, ein Netzwerk von Musikern und Unterstützern. Frank Oberhof, der Koordinator der Initiative, hatte mich schon 2019 gefragt, ob ich bei der Liedertour mitmache, doch dann kam die Seuche, alles wurde abgesagt. Jetzt haben wir 2023, mein Dezember-Liedertour-Jahr.
Sie sind Jahrgang 1955, da darf man auch einmal so eine Frage stellen: Was ist der Vorteil des Alterns?
Sich in den Zusammenhängen immer besser selbst zu erkennen.
Auf Ihrer Homepage steht folgendes Zitat von Karsten Schaarschmidt: „Krawczyk ist keiner von den ewigen Rächern, die auch 28 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer die Dissidentenkeule ins Vergangene schleudern.“ Haben Sie nach 89 bewusst den Kontakt zu ehemaligen Stasi-Mitarbeitern gesucht? Gab es da Gespräche? Oder ist das überhaupt nicht vorstellbar? Wenn ja, wie verliefen die? Kann es für Sie so eine Art Verstehen, oder sogar Verständnis, in die besagte Richtung geben?
Natürlich hängt es von der inneren Gestimmtheit ab, ob ich einem Spitzel, der sich mir heute zu erkennen gäbe, lächelnd gegenübertrete oder distanziert. Man müsste es ausprobieren. 1990 kam mal einer zu mir nach Hause, der auch im Prenzlauer Berg zu mir nach Hause gekommen war. Ich hatte ihm meine neuen Lieder vorgespielt, was ich auch in Kreuzberg tun wollte. Glücklicherweise sagte er vorher, dass er für die Stasi gespitzelt hat. Ich wies ihm freundlich, aber bestimmt die Tür. Es ist kein Geheimnis, dass sich Leute aus unterschiedlichsten Gründen bei der Macht anbiedern, meist auf Kosten anderer. Charakterbildung ist kein Schulfach. Dafür aufmerksam zu sein, bleibt Aufgabe, besonders in einer Zeit, wo die festen Größen ausradiert werden.
Hegen Sie Hoffnungen? Welche sind es?
„Hoffen“ kommt aus der Jägersprache. Es bedeutet soviel wie „auf etwas warten“. Worauf wartet der Jäger? Auf etwas, das er töten will. Zu hoffen ist an eine Tat gebunden, an die Tat des Tötens. Wir haben dem Wort das Tödliche genommen, ihm einen Suffix angehängt und freuen uns, dass wir uns der Hoffnung hingeben können, um nicht sagen zu müssen, was falsch ist. Wenn ich sage: „Ich hoffe, bis zum Tod gesund und beweglich zu bleiben“, ist meine Tat, um dieses Hoffen mit Sinn zu erfüllen, mich zu bewegen – zu Wasser, zu Erden und in der Luft, an der frischen. Folgenloses Hoffen ist sogar nach Aristoteles ein Wachtraum. Garantiert gibt es im Griechischen zwei Worte: Eins für „hoffen“ im waidmännischen Sinn und eins für das wachträumerische Hoffen, wofür es der alte Grieche hielt. In unser aller Sinn und Interesse liegt die Hoffnung, nicht zu digitalen Bestien zu werden. Tun wir etwas entsprechend dafür!
Bleiben wir bei dem interessanten Spiel, abstrakte Begriffe mit konkreten Aussagen zu füllen: Welche Wünsche haben Sie?
Danach wurde ich lange nicht gefragt. Zum Beispiel wünsche ich mir, dass wir unsere Sprache wieder lieben und ihr nicht alle möglichen Zutaten der Unvernunft verpassen. Vorhin ging ich an einem Café vorbei, Nähe Hobrechtbrücke, noch Neukölln, Kreuzkölln genannt. Da hing ein Schild im Fenster, dass Rauchen nicht erwünscht sei, darunter stand handschriftlich: „Nicht nur für unsere Kiddies“. Welchen Grund gibt es, Kinder „Kiddies“ zu nennen? Doch wohl den der Verniedlichung. Die Kinder werden verniedlicht, nicht ernstgenommen, um einem nebulösen Bedürfnis nach Harmonie zu folgen. Kinder „Kiddies“ zu nennen, ist etwas, das bestraft gehört. Beispielsweise mit zehnmal die Frage an die Tafel schreiben zu müssen: „Was bedeutet ´Kinder´“? In den Worten liegt die Bedeutung, liegt der Klang der Bedeutung. Mit dem Klang geht die Bedeutung verloren. Wir müssten uns mal zuhören. Wahrscheinlich fiele es nicht einmal auf, weil es bedeutungslos ist. Um es mit dem Medientheoretiker Marshall McLuhan zu sagen: Das Medium ist die Botschaft. Demzufolge wäre der Massenmedien Botschaft: „Du bist Masse!“ Ich wünsche mir das Geistige weniger fremdbestimmt. Es lebe das Individuum – wie in „Bitte“, einem meiner Lieder: „Werde dir nicht selber fern im Laufe deiner Jahre. / Hüte deinen guten Kern. Sei das Unteilbare.“ Was wäre das für eine Welt, in der sich die Leute als Individuen gegenüberstünden, nicht aus dünkelhafter Selbstbehauptung heraus, sondern weil sie ungeteilt sind. „Heute bin ich einfach nur / kleines Teil im Stadtparcour. / Mit den Ismen ist es um, Mannomann, wie war ich dumm.“ Aus meinem Lied „Sumsi“. Sumsi rückwärts?
Abschließend: Was ist Glück?
Mit fünfzehn hat Marvin mal gesagt: „Das Glück wurde erfunden, damit die Menschen unglücklich sind.“ Lebensfreude ist Glück und dazu von Lebensfreudigen umgeben zu sein, ist noch größeres Glück. Und dazuzugehören, zu den Lebensfreudigen dazuzugehören, weil man sich vertraut ist, ist Glück. Warum wird in Afrika mehr gelacht als in Europa, obwohl sie des käuflichen Glücks weitgehend entbehren? Das abendländische Verständnis von Glück ist vom Haben korrumpiert, zu Ungunsten des Seins.
Text: Mathias Schulze