Funafuti - der Traum von Freiheit. Arbeiten von Sabine Jaehnke, bis 25. Februar, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Eintritt frei, alle Infos: www.hdg.de
Was die Welt im Innersten zusammenhält. Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig zeigt die Ausstellung „Funafuti – der Traum von Freiheit. Arbeiten von Sabine Jaehnke“. Mathias Schulze hat sie sich angesehen
„Heute ist Weihnachten. Wir kommen gerade aus der Kirche. Es war schrecklich. Vor uns saß einer, der hatte zu viel getrunken.“ Ein Tagebucheintrag – beiläufig, deprimierend und aufschlussreich. Vor allem, wenn dies ein 16-jähriges Mädchen notiert, die wenige Zeilen vorher davon berichtet, dass sie willkürliche Briefe an ausgedachte Adressen in die ganze Welt geschickt hat.
Bis zum Mauerfall sendete Sabine Jaehnke, geboren 1960 in Dresden, stolze 40 Briefe ins Unbekannte. Fünfzehn – alle ohne abgeschickten Inhalt – kamen zu ihr zurück, wie ein Schatz wurden sie gehütet. Das waren fünfzehn unbekannte Stempel, Empfänger unbekannt, gefühlt kamen sie aus einem anderen Universum. Das waren 15 geheime Indizien dafür, dass die fernen Länder so fern vielleicht gar nicht sind. Ist da draußen – abseits der sozialistischen Bruderstaaten – wirklich noch eine andere Welt? Und wenn das so ist: Wie fühlt sie sich an, wie riecht und schmeckt sie? In der Ausstellung „Funafuti - der Traum von Freiheit“ wird auch das Tagebuch der Fotografin Sabine Jaehnke (1960-2021) gezeigt. Erzählt wird nicht nur die Geschichte einer studierten Bauingenieurin, die nach ’89 mehr als fünfzig Länder bereiste. Gezeigt werden nicht nur ihre Fotos und Collagen und die begrenzten Urlaubsmöglichkeiten in der DDR. Vielmehr vermittelt die Schau ein Gefühl, das Menschen schon seit Anbeginn umtreibt. Die Ausstellung wird zum Manifest der Sehnsucht.
Jaehnke, die in den 90er Jahren zur Meisterschülerin der Berliner Ostkreuzschule für Fotografie wurde, hat nach ‘89 Teenager aus München und Falkensee in ihren jeweiligen Jugendzimmern porträtiert. Da sieht man schüchterne Blicke, die dennoch ein unbestimmtes Verlangen aussenden. Wunderbar und sanft wird dabei sowohl die Enge des Raumes als auch die Begrenztheit des eigenen Horizontes angeklagt. Und daneben hängt in der Schau eine alte, schon vergilbte DDR-Weltkarte (Maßstab 1:20.000.000), die die Erde in politische Lager teilen wollte und die bei Zeitzeugen plastische Erinnerungen an Fernweh, Klassenzimmer und Kreidestaub hervorrufen kann. „Visafrei bis Hawaii“ war ‘89 eine wichtige Forderung.
Dass die Ausstellung deutsche Zustände transzendiert, liegt aber vor allem an den Fotos. Jaehnke hat in der Mongolei, in Nigeria, in Albanien oder in der Republik Moldau keine touristischen Hochburgen eingefangen. Jaehnke hat die scheinbar unberührte, die raue und zerklüftete Natur und die Einheimischen beim Verrichten ihrer Alltäglichkeiten fotografiert. Knorrige Kiefern und dramatische Himmel, eine kaputte Infrastruktur und die Mühsal des Lebens. Die Bilder zeigen unendliche Weiten, häufig sieht man unwirtliche Landschaften auf archaische oder moderne Lebenswelten prallen. Jaehnkes Werke protokollieren einen ungeschönten, einen realistischen Blick. Es ist, als hätte sich die ehemals von Fernweh geplagte DDR-Bürgerin vehement gegen einen ideologischen Blick gewehrt. Es ist, als suchte sie die Wahrheit – und nichts als die Wahrheit. Die Fotografin verzichtete auf herausgeputzte Sehenswürdigkeit, sie verzichtete auf künstlerische Idealisierungen und Verschönerungen. Es scheint, als hätte Jaehnke mit Neugier und Beobachtungsgabe vor allem eins festhalten wollen: Die Welt wie sie ist, die Welt pur.
So sprengen die ausgestellten Fotos auch das die Schau rahmende Narrativ. Es geht nicht nur um die Enge der DDR und um die heutige deutsche Reisefreiheit. Jaehnkes festgehaltene Welterkundungen sind auch ein Einwand gegen Pauschalreisen und Luxushotels, gegen Massentourismus und Selfie-Wahn. Die Bilder lassen die Sehnsucht nach exotischen und fremden Kulturen auf die sozialen Härten der Wirklichkeit prallen. So wurde aus dem Fernweh der Jugendzeit eine lebenslange, fast schon faustische Entdeckungstour, die herausfinden wollte, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Fotos erzählen nicht nur von einem Erkundungsdrang, sie erzählen auch vom Schmerz, der sich einstellt, wenn man der Unfertigkeit der Welt ins Auge blickt.
Eine tiefe Schwermut war schon immer mit der unstillbaren Sehnsucht verwandt. Beides unbestimmt auszuhalten, beides zuzulassen, beides nicht bewusst auszublenden und es in konkrete Vorstellungen, Ideologien oder Heilsversprechen zu kanalisieren, ist ein Quell künstlerischer Weltaneignung. Jaehnkes Fotografien reißen uns aus einer Bequemlichkeit, sie stiften ein Unbehagen an liebgewonnenen Weltbildern, sie provozieren eine Sehnsucht, der wir oft genug ausweichen. Das macht die Schau so sehenswert.
Text: Mathias Schulze