„Niemandsland und Musterdorf. Fotoreportagen von Bettina Flitner 1990/2014“ bis 20. November, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Eintritt frei, Infos: www.hdg.de/zeitgeschichtliches-forum
Der Mauerfall und die Folgen. Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig zeigt Fotos von Bettina Flitner aus den Jahren 1990 und 2014. Eine sehenswerte Ausstellung
Die Kunst der Fotografie. In Zeiten, in denen man zum Smartphone greifen und Bilder schnell der Öffentlichkeit präsentieren kann, stellt sich eine Frage neu: Wodurch wird eine Aufnahme zu einem künstlerischen Foto?
In der „Galerie“, einer neu ein-gerichteten Ausstellungsfläche im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, kann man dieser Frage auf den Grund gehen. Die Ausstellung „Niemandsland und Musterdorf. Fotoreportagen von Bettina Flitner 1990/2014“ lädt nicht nur zu einer Zeitreise durch ostdeutsche Befindlichkeiten ein, sondern sie zeigt auch, dass die Qualität von Bildern vor allem in der Wirkung auf den Betrachtenden zu finden ist.
Betritt man die Schau, sieht man an der rechten Wand Schwarz-Weiß-Fotos und an der linken farbige Menschenporträts. Bevor der Blick Konkretes ins Visier nimmt, ist die Strahlkraft beider Wände so unterschiedlich, dass man über Farbgebungen nachdenken kann. Während die rechte Wand zur Kontemplation drängt, kitzeln die intensiven Farben der linken Wand lebensbejahende Gefühlsregungen. Ein wunderbarer erster Eindruck, weitere folgen.
Die Schwarz-Weiß-Fotos sind 1990, kurz nach dem Rausch der Wiedervereinigung, entstanden. Bettina Flitner, Jahrgang 1961 und geboren in Köln, bereiste im Frühsommer den brachliegenden Grenzstreifen Berlins. Ehemals ein Todesstreifen, traf sie dort 1990 auf Schutt und Trümmer, auf Stacheldraht und wild wuchernde Pflanzen, auf Menschen aus Ost und West. Flitner hatte eine Frage im Gepäck: „Was fühlen Sie jetzt?“ Entstanden ist eine heute legendär zu nennende Fotoserie, die ganz im Flitner-Stil mit kurzen Zitaten bereichert wird.
Die entstandene „Reportage aus dem Niemandsland“ ist nicht nur deswegen so sehenswert, weil sie in einer Zeit, die öffentlich doch eine euphorische sein sollte, Un- sicherheiten und Frust, Gleichgültigkeit und Ängste zeigt. Sie ist auch deswegen so beeindruckend, weil sie Bilder eingefangen hat, die unsere Wahrnehmung fordert. Da verknoten sich skurrile Momente mit traurigen Details, da erkennt man Schicksale an Gestik und Mimik. So positioniert sich eine ältere Frau vor den Mauerresten, der Blick geht ins Nichts, ihr Statement liest sich so: „Ich hab´ 500 Mark im Monat. Früher hat das Essen 30 Pfennige gekostet, jetzt kommt’s aus dem Westen und kostet ab nächste Woche 4 Mark. Dann hör´ ich auf zu essen und spar´ auf die Beerdigung.“
Oder nehmen wir die Familie, die den Kinderwagen voller Konsumgüter gestapelt hat und mit Deutschland-T-Shirt auf nationale Gefühle setzt, die kurze Zeit später beispielsweise in Rostock-Lichtenhagen an schlimmste Zeiten erinnerten: „Na klar, das wird jetzt erstmal hart für uns. Aber da müssen die Deutschen jetzt eben alle zusammenhalten.“
Andere, beispielsweise ein homosexueller Däne, bringen ihre Angst vor einem neuen „Großdeutschland“ zum Ausdruck. Und immer liegt irgendwo Dreck und Leere oder eine kaputte Bierflasche herum. Wie an den letzten Strohhalm klammern sich die Menschen an Plastiktüten, Hundeleinen oder Gerüste. Niemand wusste damals genau, wie tiefgreifend so ein Umbruch sein kann. Und der Stolz einer historischen Zeit anzugehören, lässt sich selbst in den ängstlichsten Gesichtszügen erkennen. Ein Kind steht auf einem Skateboard, der Abriss im Hintergrund, die Hand bedeckt das komplette Gesicht. Ja, was fühlst du jetzt? Das Zitat geht, wie die Fotos, zu Herzen: „Was? Sie sind nicht verheiratet? Also alleinstehend. Wie meine Mutter. Wir werden jetzt alle arbeitslos, sagt sie.“
Auch die farbigen Porträtbilder an der linken Wand, die Flitner gut 25 Jahre später im ländlichen Mestlin in Mecklenburg-Vor- pommern, einst ein „sozialistisches Musterdorf“, eingefangen hat, berühren und verwirren durch ihre Widersprüchlichkeiten. „Was ist die DDR für dich?“, fragte Flitner die Einheimischen. Herausgekommen ist ein Sammelsurium an Bilanzierungen, die wohl jeder im Osten Aufgewachsene schon einmal gehört hat.
Und wie sich die Geschichte in den Köpfen der Menschen von Generation zu Generation immer auch neu zusammensetzt, wie sie verschwimmen und undeutlich werden kann, offenbart ein Zitat einer 16-jährigen Schülerin: „Die DDR: Alt. Alte Kleidung, alte Autos, alte Frisuren. Und alte Filme in schwarz-weiß. Mit so ’ner blonden DDR-Schauspielerin. Marilyn Monroe hieß die.“
Die Ausstellung zeigt 60 Fotografien, manche sind auf einem digitalen Bildschirm zu sehen. Dennoch wird die Aufmerksamkeit nicht durch technische Spielereien gestört. So ist eine innere Reise zu all den Erfahrungen, die man die letzten 33 Jahre im Osten sammeln durfte, möglich. So stimulieren die atmosphärischen Fotos ein Versinken, das bis zur Sprachlosigkeit gehen kann. Oder wie es ein Gast auf einem Zettel so präzise und treffend formulierte: „Stille.“
Text: Mathias Schulze