May Town in Zetkin Park, bis 31. Juli, Ausgangspunkt ist der Kubus in der Nähe des Kreisverkehrs an der Anton-Bruckner-Allee im Clara-Zetkin-Park in Leipzig, alle Infos: schaubuehne.com und www.stiga-leipzig.de
Es gibt bemerkenswerte Ereignisse der hiesigen Stadtgeschichte, von denen bislang dennoch kaum einer Notiz genommen hat. An eines davon, nämlich, dass Leipzig im Sommer 1897 eine Art kleine Weltausstellung veranstaltete, die Millionen Besucher anzog, erinnert die Schaubühne Lindenfels jetzt mit einer spektakulären, digital-analogen Kunstaktion und setzt es damit in den Kontext unserer Zeit. „May Town in Zetkin Park“ ist eine spannende Reise in der Zeitmaschine, an deren Steuer ein alter Bekannter aus jenen Tagen sitzt: Karl May. Dies und weitere Details dieser Aktion verrät Axel Kunz, Sprecher der Schaubühne, im Interview
Zum Projekt „May Town in Zetkin Park“ findet man auf der Homepage der Schaubühne Lindenfels eine Erläuterung, die von einer Reise durch ein „digitales Mapping, durch die Vergangenheit der Stadt und die Gegenwart der Welt“ spricht. Daraus ergibt sich ganz banal meine erste Frage: Was ist „May Town in Zetkin Park“?
„May Town in Zetkin Park“ ist eine Ausstellung, aber auch ein digitales Erlebnis und eine Reise in der Zeitmaschine.
Eine Reise in der Zeitmaschine?
Die Besucherinnen können mit ihrem Smartphone durch den Park gehen und an verschiedenen Punkten in digitale Welten eintauchen. Videoinstallationen und andere Kunstwerke erscheinen vor der Kulisse der historischen „Sächsisch-Thüringischen Industrie-und Gewerbeausstellung“, kurz „Stiga“.
Meine Fragen bleiben banal: Was ist denn die „Sächsisch-Thüringischen Industrie-und Gewerbeaus-stellung“?
Die fand in Leipzig 1897 als eine Art kleine Weltausstellung statt. Für einen Sommer lang entstand eine Stadt mit rund hundert Gebäuden und Pavillons, darunter ein riesiger Industriepalast als Hauptmessehalle oder ein Vergnügungsviertel. Vielen Menschen ist das vielleicht nicht bewusst, aber der ganze Park wurde bebaut und bekam so erst die Form, die er heute hat.
Mein geliebter Clara-Zetkin-Park! Asche auf mein Haupt, das habe ich auch nicht gewusst.
Einige Fragmente der kleinen Weltausstellung stehen noch oder wurden an anderen Orten wieder aufgebaut. Geprägt vom Geist des Deutschen Kaiserreiches wurde technologischer Fortschritt als Mittel für den Aufstieg zur Weltmacht präsentiert. Das Event zog Millionen von Zuschauerinnen an. Das ist bemerkenswert für diese Zeit.
In der Ankündigung lese ich auch etwas von Karl May.
Wir nehmen nun Karl May, der zu dieser Zeit lebte, als unseren Tour Guide, als unseren Reise- begleiter, um uns in diese Welt einzufühlen. Der Hochstapler und begnadete Geschichtenerzähler nimmt uns mit in seine Zeitmaschine, die im virtuellen Park die Geschichte für uns heute sichtbar macht. War Karl May auf der „STIGA“? Wir denken schon, denn er war immer dort, wo ihn seine Fantasie hintrug. Ob wir ihn dazu bewegen können, heute noch einmal im Park aufzutauchen, werden wir sehen.
Insgesamt soll es um das koloniale Erbe Deutschlands gehen.
Gleich am Eingang der „STIGA“ war ein „Ost-Afrika-Dorf“ und ein „Basar von Daressalam“ zu besichtigen. Hier „wohnten“ während der gesamten Zeit der Ausstellung Menschen aus Afrika, die als le-bendiger Teil der Kolonialschau ausgestellt wurden. Zwei der 47 Menschen, die dafür aus Tansania nach Deutschland gebracht worden waren, starben während der Ausstellung.
Woher kommen die Informationen, das historische Wissen?
Diese Informationen waren, genauso wie der deutsche Kolonialismus insgesamt, weitestgehend verdrängt und werden erst langsam aufgearbeitet. Was in Leipzig geschah, ist aber recht gut dokumentiert, zum Beispiel im Leipziger Stadtarchiv oder im Stadtgeschichtlichen Museum. Die „AG Postkolonial“ sammelt dazu auch Informationen. Für uns war es auch Anlass, sich in das Thema einzuarbeiten. Auch Karl May, den wir als Figur dieser Zeit einführen, ist ja sehr spannend. Er hat sich ja quasi unbewusst in seinen Geschichten auch mit Kolonialismus auseinandergesetzt, aber eben einen literarischen Blick auf die Welt gehabt. Das inspiriert uns, gerade auch weil wir natürlich keine Historiker sind. Uns geht es darum, diese Vergangenheit künstlerisch zu betrachten und uns zu fragen, was wir heute damit machen. Und das überlassen wir KünstlerInnen aus aller Welt, denn unsere deutsche Perspektive kann hier nie die bestimmende sein.
„May Town in Zetkin Park“ ist ja eingebettet …
… in das große Projekt „125 Jahre STIGA“, das im Themenjahr „Freiraum für Bildung“ der Stadt Leipzig stattfindet. Viele Institu-tionen, von der HTWK über das Grassi-Museum, dem Kunstkraftwerk oder dem Stadtgeschichtlichen Museum, um nur einige zu nennen, beschäftigen sich mit allen Aspekten der damaligen Ausstellung. Da wird es in diesem Jahr in der ganzen Stadt ein interessantes Programm geben.
Wo sehen Sie die hartnäckigsten Vorurteile oder Fehlinformationen, die ein Projekt wie „May Town in Zetkin Park“ anpacken sollte?
Es geht uns um die Wahrnehmung der Geschichte. Wir persönlich haben in der Schule wenig über deutschen Kolonialismus oder noch weniger über die „STIGA“ in Leipzig gehört. Vor allem über das zweifelhafte Menschenbild der Zeit redet man nicht so gerne, wenn es um den Fortschritt geht. Vor 120 Jahren wurde aber der Reichtum geschaffen, von dem wir noch heute profitieren. Die Zukunftsvisionen von damals: Wachstum um jeden Preis und Ausbeutung aller verfügbaren Ressourcen, zu denen auch Menschen zählten. 100 Jahre später leben wir in dieser Zukunft und müssen uns fragen, wohin uns das gebracht hat und ob wir immer noch glauben, es müsste immer mehr Wachstum geben. Deshalb sollten wir in diesem Zusammenhang neben Rassismus auch über Ungleichheit und die Ausbeutung der Erde reden. Wir packen in unserer Ausstellung natürlich nicht alle Themen gleichzeitig an und stellen uns schon gar nicht mit dem erhobenen Zeigefinger hin. Wir wollen die Künstler- innen ihre teilweise ganz persönliche Geschichte und Sicht auf die Dinge erzählen lassen. Aber es wäre schon viel erreicht, wenn wir dazu anregen, sich mit dieser Zeit und den Konsequenzen für unser heutiges Leben mal auseinanderzusetzen.
Was wird es für Installationen, für Objekte, für Begegnungsräume geben?
Zentraler Anlaufpunkt wird ein Kubus gleich am Parkeingang in der Nähe des Kreisverkehrs. Dort finden neben Ausstellungen auch Talks mit den Künstlerinnen statt, live oder virtuell. Macht man sich auf die Suche nach den Markern im Park – eine Karte hilft dabei – kann man in der virtuellen Umgebung der früheren „STIGA“ Videoinstallationen, Performances und vieles mehr erleben. Auch eine Mitmach-Aktion für Schülerinnen wird es geben. Außerdem setzen wir unsere Reihe „Cockpit Collective” fort, bei der man mit historischen Personen wie Karl May live telefonieren kann. Ein Audiowalk führt uns zusätzlich durch die Geschichte des Parks.
Die Künstlerinnen kommen aus Chile, Deutschland, Italien, Kolumbien, Mexiko, Namibia, Panama, Polen, Tansania und der USA. Wie haben Sie diese Künstlerinnen gefunden? Wer oder was hat über deren Teilnahme entschieden?
Die Schaubühne ist ja schon lang international sehr gut vernetzt, so dass unsere Künstlerische Leitung mit Ilona Schaal und René Reinhardt einige der Künstlerinnen ausgewählt hat. Zusätzlich kümmerte sich die polnische Kuratorin Julia Asperska um die Zusammenstellung. Entscheidend war, dass wir möglichst viele Perspektiven aus unterschiedlichen Teilen der Welt abbilden wollen. Jeder und jede hat ja hier einen anderen Blick und andere Erfahrungen. Viele der Künstlerinnen haben sich außerdem schon länger mit dem Thema beschäftigt.
Es soll Menschen geben, die, auch aus Überzeugung, kein Smartphone haben. Brauchen die erst gar nicht zu kommen?
Es gibt immer auch etwas Analoges zum Anfassen oder zum Anschauen. Zum einen die Ausstellungen im Kubus oder Extra-Veranstaltungen, aber auch einige der Kunstwerke, die auch eine „reale“ Komponente im Park haben. In den Park einzutauchen mit dem Bewusstsein, was hier früher einmal war, lohnt sich auf jeden Fall. Vielleicht bringen wir die virtuelle Landschaft auch noch auf den heimischen Computer. Was genau leistet das digitale Format bei „May Town in Zetkin Park“? Warum ist es mehr, als eine Spielerei? Was leistet es, auch bezüglich des Themas, was rein analog nicht möglich wäre? Digitale Inhalte regen ja Regionen im Hirn an, die wir analog gar nicht erreichen. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn man mit den Füßen im Gras steht, aber mit den Augen in eine virtuelle Welt schaut. Man gleicht das Reale heute mit dem digitalen Bild von damals ab. Es ist ein bisschen wie ein Computerspiel, nur dass wir dafür nicht im Sessel sitzen, sondern am realen Schauplatz sind. Man kann sich nirgendwo so leicht in Zeit und Raum bewegen wie in der virtuellen Welt. Eine Zeitmaschine im Taschenformat sozusagen.
Hat oder braucht die Schaubühne Lindenfels in Zukunft verstärkt IT-i, um solche Projekte umzusetzen?
Das ist auf jeden Fall so. Wie mit Schauspielerinnen, Bühnenbildnern oder Tontechnikerinnen arbeiten wir jetzt ganz normal mit IT Leuten zusammen. Patryk Lichota, der mit seiner Virtual Reality-Agentur das digitale Mapping von „May Town in Zetkin Park“ umsetzt, gehört ganz selbstverständlich mit zum Ensemble. Er ist genauso Künstler wie alle anderen. Darüber hinaus arbeiten wir an weiteren Projekten, die virtuelle Realität mit den Mitteln des Theaters bespielen. Nicht erst seit der Pandemie machen wir uns Gedanken, wo Theater eigentlich noch sein kann – fernab von einem Saal mit Vorhang und Bühne.
Ein Glaskugelblick: Wird das Analoge irgendwann in der Minderheit sein?
Schwer zu sagen. Wir haben eben jetzt neue Medien, um Geschichten zu erzählen. Auch das Theater ist ja ein Medium und sogar das älteste überhaupt. Die Frage ist, wie wir mit dem Theater auch in Zukunft Menschen erreichen, ohne uns mit all den digitalen Mitteln selbst abzuschaffen. Theater braucht immer die Begegnung in Echtzeit, den Austausch mit dem Publikum und den Live-Moment. Wir sind überzeugt, dass die Begegnung den Menschen immer wichtig bleiben wird. Deshalb holen wir die Menschen mit unserem Projekt ja auch in den Park, statt ihnen die virtuelle Kunst nach Hause zu liefern.