Geneigte Leser*,
so, so, da hat dieses Land mal wieder einen echten Aufreger – die Causa Lindemann: Ein Rockstar (alter, weißer Mann) und das System seiner Groupies, mit denen er sogar Sex gehabt haben soll – man höre und staune(!) – treibt die Frauenrechtler zu höchster Empörung. Möglicherweise, so argumentieren sie, sei Gewalt im Spiel gewesen. An dieser Stelle wird es interessant. Denn hat es Gewalt gegen Frauen gegeben, läge hier zweifelsohne einen Straftatbestand vor, den die Justiz aufzuklären hat. Bis sie ihn aufgeklärt hat, haben alle anderen die Füße still zu halten und insbesondere niemanden vorzuverurteilen. Das nennt man Unschuldsvermutung. Und die ist etwas, worauf man in einem Rechtsstaat, wie unserem, durchaus stolz sein darf. Erst, wenn die Schuld von einer neutralen Instanz, die man Gericht nennt, zweifelsfrei festgestellt worden ist, darf bestraft werden. Man kann zu dem alten, weißen (Linde)Mann stehen wie man will und sein Gebaren als normales Show-Business abtun, was schon immer so war - oder es aber grauenhaft finden, wie er seine Macht missbraucht hat. Ein verurteilter sexueller Gewalttäter, als der er gerade durchs Netz gejagt wird, ist er (bis jetzt) nicht. Den Stempel „Sexualstraftäter“ muss er nun dennoch tragen. So etwas kann einen Menschen vernichten.
Doch all das erklärt noch nicht, warum der Sturm so vehement losbrach. Kann es sein, dass es auf der Meta-Ebene mal wieder um die eigentliche Mann-Frau-Machtfrage geht? Das erklärte die Schieflage der Debatte. Denn leben wir wirklich in einer gerechteren Welt, wenn ausschließlich Frauen an der Macht sind? Wenn dem so wäre, dann wäre Machtmissbrauch männlich. Machtmissbrauch ist aber weder männlich noch weiblich. Machtmissbrauch gibt es überall da, wo große Macht auf Menschen mit kleinem Selbstwert trifft. Und das ist dann weniger ein Grund für Kulturkampf. Eher eine Sache für Therapeuten. Oder was kompensiert ein 60 Jahre alter Mann, wenn er während der Arbeit mit einer riesigen Penis-Kanone auf andere Menschen schießt …?
Eike Käubler