Gehen und Bleiben, ab 20. Juli, Kinobar Prager Frühling, am 25. Juli um 18 Uhr in Anwesenheit von Regisseur Volker Koepp
Doku-Filmer Volker Koepp über sein neues Werk, das sich Nord-Ost-Deutschland widmet, mit dem er im Juli nach Leipzig kommt
Motive des Gehens und Bleibens und die Auseinandersetzung mit der deutscher Geschichte durchziehen das Werk des Schriftstellers Uwe Johnson (1934-1984). Nun hat sich der renommierte Dokumentarfilm-Regisseur Volker Koepp die Texte Johnsons geschnappt und ist in die biografische und literarische Heimat des Schriftstellers gereist. Getroffen hat er Menschen, die von ihrem Leben in der Gegenwart, von ihren Erinnerungen, vom Ausharren an den Orten ihrer Herkunft, vom Fortziehen und auch von Uwe Johnson erzählen. Entstanden ist der monumentale, 168 Minuten lange Dokumentarfilm „Gehen und Bleiben“, der vom Nordosten Deutschlands erzählt. Grund genug, Volker Koepp, der am 25. Juli in die Kinobar Prager Frühling kommt, hier selbst sprechen zu lassen:
„Ich war 2018 zur Premierenfahrt unseres Films ,Seestück‘ unterwegs. Nach der Vorführung in Rostock bekam ich ein Buch geschenkt: ,Die Ostsee – Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren‘. Darin ist auch ein Text aus Uwe Johnsons Romanzyklus ,Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl‘ enthalten: die Beschreibung vom Untergang des früheren Luxusdampfers Cap Arcona am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht. Tausende Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme waren an Bord des Schiffs kurz vor Kriegsende ums Leben gekommen.
Die Wiederbegegnung mit dem Schriftsteller Uwe Johnson war für mich besonders: Es schien so, als hätte hier ein Überlebender des Krieges versucht, gegen das Vergessen anzuschreiben. Die Gegenwart des Jahres 2018 aber war von Geschichtsvergessenheit geprägt und die Hoffnungen der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren nach dem scheinbaren Ende des Kalten Krieges auf eine friedlichere Welt längst wieder verflogen. Es hatte Tschetschenien gegeben und Georgien, und Russland hatte zuletzt auch die Krim annektiert.
Nur wenige Seiten vor Uwe Johnsons Bericht über die Cap Arcona gibt es im Roman eine Unterhaltung zwischen Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie über die Frage, ob sowjetische Panzer – wie schon 1956 in Budapest – 1968 in Prag einrücken oder ob lediglich Manöver stattfinden werden. Die Aktualität dieser Fragestellung beeindruckte mich.
So begann meine Wiederentdeckung Uwe Johnsons. Ich stellte fest, dass ich viele der Orte, die in seinem Werk auftauchen, schon gesehen hatte. Natürlich bewegte mich auch eine besondere Art von biografischer Nähe zu Uwe Johnson. Ich wurde in der Nähe der Ostsee geboren. Von Stettin aus floh meine Mutter mit meinen drei Schwestern und mir nach Broda bei Neubrandenburg.
In den Schulferien besuchte ich ab 1950 das Dorf immer wieder. Es lebten immer noch Flüchtlingsfrauen dort. Sie unterhielten sich an der Pumpe über das Kriegsende. Danach lebte ich für ein paar Kinderjahre in Greifswald in der Nähe des Hafens. Ich erinnere mich an ein Gespräch der Erwachsenen über die Bombardierung Swinemündes und die Flucht aus Stettin. Folgen des Krieges. Später fuhr man zur Sommerfrische an die Ostsee. So ergab sich meine inhaltliche Annäherung. Johnsons Beziehung zu den Landschaften seiner pommerschen und mecklenburgischen Heimat, seine Aufarbeitung der Nachkriegszeit, sein ,Gehen und Bleiben‘.
Viele Landschaften hatte ich schon in seinen Gegenden gedreht und ich habe oft erlebt, dass die Menschen, denen ich in den Dörfern begegnete, erst nach 1945 hier heimisch wurden. Und immer hatte ich in meinen Filmen auch darauf hingewiesen, dass der Norden und Osten Deutschlands von den Verheerungen der Kriege und Teilungen immer besonders betroffen war und alles oft ganz wüst lag.
Seit dem 30-jährigen Krieg war das so, Ritter, Tod und Teufel, bis zu den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges im vorigen Jahrhundert. Die Affinität zu Uwe Johnsons Welt stellte sich in vielen Facetten mehr und mehr her. Darum wollte ich, beeindruckt von der poetischen Kraft der Johnsonschen Texte, diesen Film realisieren.
Die Pandemie sorgte nach Drehbeginn immer wieder für Unterbrechungen. Die gegenwärtigen Entwicklungen der Jahre 2020 bis 2023 waren plötzlich sehr eng mit dem Werk Uwe Johnsons verbunden. Die zerschlagenen Hoffnungen der Frauen in Belarus und die Ankündigung von russischen Manövern. Schließlich, am 24. Februar 2022, die Ausweitung des Überfalls Russlands auf die gesamte Ukraine. Jetzt, zu Beginn des Jahres 2023, scheint es so, als hätte es nie ein Kriegsende gegeben.“
Text: Volker Koepp