„Hits & Hymnen. Klang der Zeitgeschichte“, bis 21. Juli 2024, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Eintritt ist kostenfrei
Im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig wird der Soundtrack der deutschen Geschichte ab 1945 präsentiert. Eine bunte Schau, die sich ganz dem multimedialen Erleben verschrieben hat
Ost-Berlin, 2. Oktober 1987. Die Informationen, die der Zentrale Operationsstab der DDR in einem offiziellen Schreiben über Udo Lindenberg notiert, haben es in sich. Man lese und staune, man lache und weine: Des Panikrockers äußere Erscheinung sei durch eine „bewusst fläzige und lässige Gestik“ geprägt. Mehr noch: Lindenberg soll dem Status und der „Funktion seiner Partner bewusst missachtend und zum Teil diskreditierend“ entgegenstehen. Spezialwissen vom Feinsten. Zwei Sätze – und schon verursacht diese absurde Spießigkeit, diese geistlose Borniertheit, dieser muffige und erstickende Formalismus einer Staatsführung, deren Ende in Sicht ist, fast schon körperliche Schmerzen. Ausgestellt sind diese ranghohen Einschätzung in der Ausstellung „Hits & Hymnen. Klang der Zeitgeschichte“, die derzeit im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu sehen ist. Über 450 Exponate sind in vier Teilbereichen zu sehen. Viele Medienstationen, darunter auch Monitore mit Gebärdensprache, sind zu bestaunen. Ein Hoch auf die schwingenden Schallwellen. Wer jene Musik hören möchte, die auf deutschem Gebiet seit 1945 viele Menschen erreicht hat, ist hier genau richtig.
Im Eingangsbereich sind alte Lautsprecher an die roten Wände montiert. Angespielt werden Nenas „99 Luftballons“, Nicoles „Ein bisschen Frieden“ oder das antifaschistische „Bella ciao“. Mitgegeben wird die unspezifische Information, dass Politik und alle Musik-Genres im engen Austausch stehen. Man läuft in einen kleinen Tunnel hinein, Assoziationen zu einem Gehörgang sind erlaubt. Und was findet man dann in der Schaltzentrale, im Gehirn? Die populärsten Lieder in Ost und West werden mit Fotos und Zeitungsausschnitten, mit Plattencovern, Instrumenten und Bekleidungsstilen vorgestellt – die Zeitachse läuft bis in die Gegenwart. Man kann darüber erschrecken, wie auf dem Gebiet der Westalliierten skrupellos und enthemmt der Wunsch nach Verdrängung der Kriegsschuld und des Holocaust ausgelebt wurde. Der rheinländische Karnevalsschlager „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ eroberte 1948 die Herzen der Massen. Abgeschmeckt mit rassistischen Tönen heißt es darin: „Mein lieber Freund, mein lieber Freund / Die alten Zeiten sind vorbei / Ob man da lacht, ob man da weint / Die Welt geht weiter, eins, zwei, drei.“ Angesichts der Tatsache, dass dieser Schenkelklopfer ein riesiger Erfolg wurde, wirkt ein ausgestellter Leserbrief eines US-Amerikaners an das „Hamburger Abendblatt“ bewundernswert optimistisch: „Ich glaube, die Umerziehung des deutschen Volkes wird noch viele Generationen dauern.“ Oder nehmen wir den Song „’54, ’74, ’90, 2006“ von der Band Sportfreunde Stiller oder das „Deutschland“-Lied der Prinzen aus dem Jahr 2001. Im Rückblick erschreckt die Naivität, die von einem „fröhlichen Patriotismus“ schwärmte. Im Rückblick wird man den Gedanken nicht los, dass hier eine Saat gelegt wurde, die ab 2014 den Erfolg der AfD begünstigte. Im Teilbereich „Musik und Protest“ wird der große Bogen gespannt – von Ludwig van Beethoven geht es über den Rock ’n’ Roll im Westen, den Beat und Punk oder den Oktoberclub in der DDR bis zu der rechtsextremen Szene und den Rappern, die ihre migrantischen Erfahrungen formulieren. Im Osten kam es nach der Tauwetter-Periode ab 1965 zum Verbot der Beatmusik. Erinnert wird an den Protest in Leipzig, erinnert wird an das gewaltsame Einschreiten der Polizei, an den „beaufsichtigten Arbeitseinsatz“ von 97 Demonstranten im Braunkohletagebau. Im Hauptraum, der den pathetischen Titel „Musik überwindet Grenzen“ trägt, sind große Leinwände gespannt, man sieht historische Live-Mitschnitte: Wolf Biermann 1976 in Köln, drei Tage vor seiner Ausbürgerung aus der DDR. Bruce Springsteen 1988 in Ost-Berlin, Udo Lindenberg 1990 im vereinten Deutschland und die Berliner Philharmoniker kurz nach dem Mauerfall. Anlässlich der sogenannten Hymnen-Panne von Sarah Connor 2005, die bei der Eröffnung der Münchner Allianz-Arena „Brüh’ im Lichte dieses Glückes“ sang, kann man zum Selbsttest greifen: Wie gut kennt man den Text der deutschen Nationalhymne? Entlassen wird man mit der Frage: Was ist Ihre Hymne? Angeboten werden beispielsweise Queens „We are the Champions“ oder das Lied vom Trickfilm- und Animationshelden Feuerwehrmann Sam. Es ist eine bunte Schau, die sich dem multimedialen Erleben verschrieben hat. Schlagwortartig werden die Klänge in den politisch-gesellschaftlichen Kontext gesetzt, die Produktionsbedingungen von Musik bleiben unbeobachtet. Immer und überall wird man beschallt, der Konzentration ist das nicht zuträglich. Hätte das verfügbare Kopfhörer-Angebot nicht gereicht? Es ist eine Schau, die Begriffe wie „Zeitgeist“ oder „kollektive Identität“ und das Verhältnis von Politik und Musik zwar nicht analysiert, wohl aber mit Beispielen in Hülle und Fülle illustriert.
Text: Mathias Schulze