Kleines Mädchen, bestellbar unter www.salzgeber.de
Noch beherrscht uns die Pandemie, noch brauchen wir gute Filme für das heimische Wohnzimmer. Ein herausragender Dokumentarfilm ist „Kleines Mädchen“. Der Film begleitet die siebenjährige Sasha, die als Junge geboren ist
Schneeballschlachten und Kinderspiele, ein unbeschwertes und zweckfreies Rumtollen. Drinnen, im und am eigenen Haus, ist für die siebenjährige Sasha und ihre Familie alles in Ordnung. Draußen jedoch, auf der Straße, beim Einkaufen und vor allem in der Schule, beginnen all jene Probleme, die sich als ein trauriger Schleier in die Augen aller Beteiligten gelegt haben.
Sasha weiß schon lange, dass sie ein Mädchen ist, auch wenn sie als Junge geboren wurde. Doch ihr Selbstverständnis teilen nicht alle. Da gibt es Kämpfe und Diskriminierungen, familiäre Liebe und Enttäuschungen. Da gibt es kleine Erfolge und ganz viel Unverständnis.
Ein Jahr lang hat der Regisseur Sébastien Lifshitz jene französische Familie begleitet. Der daraus entstandene Dokumentarfilm „Kleines Mädchen“ (2020), der nun als DVD erhältlich ist, entfaltet eine enorme emotionale Wucht. Da hört man die unbegründeten Vorwürfe, die sich die erschöpften Eltern lange machten: Haben wir etwas falsch gemacht? Und wenn ja, was? Da spürt man die beklemmende Unwissenheit der ländlichen Umgebung, die manchmal noch nicht einmal böse Absicht ist. Unter Tränen berichtet die Mama: „Sasha hat keine Kindheit.“
Erst im Kinderkrankenhaus in Paris kann die sogenannte „Geschlechtsidentitätsstörung“ als eine natürliche Erscheinung beglaubigt werden. Endlich kann die Familie von den quälenden Zweifeln erlöst werden: Sasha ist ein kleines Mädchen, mit ihr ist alles in Ordnung, das Thema der Identität ist völlig getrennt von den Fragen nach der Sexualität, die in der Jugend aufkommen.
Transidentität ist keine Frage des Alters. Sasha ist nicht krank! Und im Pariser Kinderkrankenhaus bekommt die Familie jenen Attest, den Sashas Schule die ganze Zeit forderte. Warum eigentlich? Ob die Lehrer sie nun als Mädchen akzeptieren? Ob jetzt dieses Ausweichen und Ablenken, diese offen versteckte Intoleranz, endlich endet? Und wie soll man dem Schubsen und Hänseln der Weggefährten begegnen?
Der Film erzählt von möglichen hormonellen Behandlungen und von den Schikanen des Alltags. Er arbeitet mit elegischer Klaviermusik und mit den verständnisvollen Blicken zwischen Mutter und Kind. Und vor allem zeigt er eindringlich das Leiden der siebenjährigen Sasha, die nicht mit sich selbst, sondern mit den Reaktionen ihrer Umwelt zu kämpfen hat.
Manchmal sieht man ein zittriges Zucken der Mundwinkel, wenn Sasha die Erbarmungslosigkeit ihrer Mitmenschen formulieren will. Manchmal sieht man ihr befreiendes Lächeln, wenn sie erzählt, dass ihre Freunde sie nun als Mädchen anreden.
Der Film arbeitet nicht explizit mit einer gesellschaftlichen Ebene, er berichtet nicht von der politischen Demagogie, die sich auf den Rücken von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtliche Menschen austobt. Vielmehr begleitet die Kamera die kleine Sasha ganz sensibel, der Regisseur scheint eine enge Bindung zu ihr aufgebaut zu haben.
So kann man den eigentlich unnötigen Leidensdruck dieses kleinen Mädchens körperlich spüren, so entwickelt man eine Wut auf all jene gesellschaftlichen Normen, die das Glück, ja, schlichtweg das Leben, beengen und verhindern – mal subtil, mal brutal. „Kleines Mädchen“ ist ein aufklärerischer, ein wichtiger und ein sehenswerter Film.
Text: Mathias Schulze