Noch ist Corona, noch kann man gute Formate fürs heimische Wohnzimmer gebrauchen. Wir empfehlen: Die dreiteilige Dokumentation „Machtpoker um Mitteldeutschland“, die jetzt auf unter anderem auf You Tube zu sehen ist
„Es kann nicht angehen, dass mit Mitteln der Treuhand eine Sanierung westdeutscher Unternehmen betrieben wird!“ Wer hat diese markigen Worte Anfang der 1990er Jahre in den Thüringer Landtag hineinskandiert? Es war der CDU-Politiker Bernhard Vogel. Kaum war er Ministerpräsident in Thüringen, hat es im Sommer ‘93 den Hungerstreik der Kalikumpel in Bischofferode gegeben: Ein Symbol des Niedergangs der ostdeutschen Industrie durch die Treuhand war gefunden.
Katja Herr lässt in ihrer Dokumentation „Machtpoker um Mitteldeutschland“ die Beteiligten zurückblicken, der Fokus liegt auf der Zeit zwischen 1989 und 1994. Mit Bezug auf Bischofferode erzählt Christine Lieberknecht (CDU), die bis 2019 Abgeordnete im Thüringer Landtag war: „Das war ganz knallharte Marktbereinigung. Von daher waren wir an so einer Stelle auch als Kabinett eines ostdeutschen Landes machtlos.“
Waren und sind Politiker nur Marionetten eines kapitalistischen Verdrängungswettbewerbes? Ist die Wiedervereinigung nur eine Übernahme gewesen, deren Profiteure vor allem in der West-Elite zu finden sind? Fragen über Fragen. Katja Herr beantwortet sie mit ihrer sehenswerten Dokumentation auf ihre Art.
So kann man sich im ersten Teil, ob der Fokussierung auf das sogenannte „Ländereinführungsgesetz“ im Juli 1990, das aus 14 Bezirken der DDR fünf Bundesländer formte und damit eine Voraussetzung für die deutsche Einheit war, verwundert zeigen: Ist es so entscheidend, ob man zu Thüringen oder zu Sachsen gehört? Die mit Zeitzeugen-Stimmen, Originalaufnahmen und Charakterköpfen abgeschmeckten Porträts solcher Städte wie das heutige Pausa- Mühltroff in Sachsen lassen nur eine Antwort gelten: Ja! Die Dokumentation zeigt, dass die erkämpfte Zuordnung von Pausa-Mühltroff zum Bundesland Sachsen eine wirtschaftliche Bedeutung hat, die sich bis in die heutige Enkelgeneration fortgesetzt.
Da sehen wir Westdeutsche in den Osten pilgern, es gab günstige Wurst und billiges Benzin. Da erfahren wir von gehetzten Ostdeutschen, die als „Laienpolitiker“ im Turbogang die Länderstrukturen und die Einheit herstellen sollten: Helmut Kohl brauchte Wählerstimmen. Dem Tempo waren nicht viele gewachsen. Anfängliche Volksentscheide, die die Bürger befragten, zu welchem Bundesland sie gehören wollen, wurden von der Volkskammer als Umfragen eingestuft: Die neue Politikverdrossenheit begann. Die Einheit kam, da waren die Bundesländer formal noch gar nicht begründet.
Da der Streit zwischen Halle und Magdeburg, um die Landeshauptstadt, um Geld und überregionale Bedeutung. Hier das politische Postengeschacher, die Schlammschlachten und Medienkampagnen. Reihenweise stolperten Politiker, Stasi-Vorwürfe wurden – mal berechtigt, mal nicht – zum Mittel der politischen Auseinandersetzung. So ließen sich Konkurrenten ausschalten, Kollegen in den Suizid treiben. Und auf den Straßen formierten sich die Existenznöte, Morddrohungen gegen Politiker inklusive. „Es brannte an allen Ecken“, so Bernhard Vogel rückblickend. Der Ministerpräsident Christoph Bergner (CDU) wollte in Sachsen-Anhalt aus der Arroganz seiner Vorgänger lernen, er versucht es mit einer „Politik der demonstrativen Bescheidenheit.“
Gezeigt wird die Massenarbeitslosigkeit, die Abwanderung und die Notwendigkeit im Westen Billig- Jobs anzunehmen. Ein Originalzitat von der Straße: „Wir werden behandelt wie der letzte Schiss!“ Die Wut richtete sich schon damals gegen die Schwächeren, der Osten bekam seinen Ruf als braune Hochburg.
Die Dokumentation schleudert uns zackig in eine chaotische Zeit, die sich nur beschönigend als Umbruchphase bezeichnen lässt. Ein Problem ist der plötzliche Abbruch in der Mitte der 90er Jahre. So können historische Entwicklungen nicht weitergeführt werden. Da wäre beispielsweise der vielzitierte „Sachsenstolz“, der von Ministerpräsident Kurt Biedenkopf geschürt und als politisches Kapital genutzt wurde. Den dokumentarischen Weg zu heutigen rechten Strukturen nicht gegangen zu sein, ist ein Versäumnis.
Auch das Fazit, wonach man stolz auf die ostdeutschen Bundesländer sein kann, reicht nicht aus. Was ist mit der von Josef Ducha (CDU) für 1993 (!) versprochenen „Angleichung der Lebensverhältnisse“? Was ist mit der Mietpreisexplosion in den Großstädten? Was ist mit dem sozialen und kulturellen Gefälle von Land und Stadt? Würde Katja Herr ihre Dokumentation genauso minutiös beschreibend bis in die Gegenwart fortsetzen können, wäre die ostdeutsche Geschichte um eine Chronik reicher.
Text: Mathias Schulze