Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann, ab 20. Mai auf DVD und auch digital unter www.dcmstories.com erhältlich
Der Dokumentarfilm „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ berichtet eindrucksvoll vom Innenleben autistischer Menschen. Ab 20. Mai ist er auf DVD oder digital erhältlich
Ächtungen, Verbannungen, Ermordungen. Lange Zeit war das Schicksal autistischer Menschen vor allem von einer brutalen Rücksichtslosigkeit geprägt. Das Zucken und das Schreien. So entstanden Vorstellungen, wonach Autisten von einem Dämon besessen seien, wonach ihnen die Menschlichkeit abzusprechen sei.
Auch heute noch gibt es Stigmatisierungen und Fehleinschätzungen. Nur weil man nicht sprechen kann, heißt es nicht, dass man nichts zu sagen hat. Auch die Vorstellung, wonach es ein autistisches Spektrum gibt, an dessen einem Ende das Genie und am an-deren der Dummkopf steht, hält sich weiterhin als hartnäckiges Vorurteil. Nonverbale Autisten sind nicht „nicht funktionstüchtig“, sie sind nicht „zurückgeblieben“, sie sind den Verhältnissen nicht hoffnungslos ausgeliefert.
Als der Japaner Naoki Higashida das Buch „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ 2007 veröffentlichte, wurde der Blick auf das autistische Innenleben geschärft, gar revolutioniert. Endlich konnten Mitmenschen ihre Angehörigen verstehen.
Higashida, der selbst unter einer schweren Form von Autismus leidet, notierte mit dreizehn Jahren Reizempfindungen, Gedanken, Gefühle oder Impulse, die der neurotypischen Welterfahrungen der meisten Menschen unbekannt sind. Obwohl Higashida nur den Anspruch hatte, sich selbst zu verstehen, zeigte er, dass in einem autistischen Körper ein neugieriger, feinsinniger und komplexer Geist lebt.
Nur gibt es eben verschiedene Arten der Weltwahrnehmung – schöne und verstörende. Zu begreifen, wie ein Autist mit dem Chaos der Welt umgeht, wie ihn Lichter, Geräusche, Oberflächen, Naturphänomene oder Erinnerungsschübe überfluten, reizen oder beglücken können, ist ein notwendiger Schritt für eine vollständige Inklusion.
Den Ansatz, Autismus von in-nen heraus zu begreifen, verfolgt auch der Dokumentarfilm „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ von Jerry Rothwell. Eindrucksvoll zeigt er, wie existenziell es für alle Menschen ist, sich ausdrücken zu können. Der Film begleitet verschiedene Autisten aus mehreren Kontinenten, eine Erzählerstimme liest dabei Zitate aus Higashidas Buch vor.
Da gibt es die Autistin aus Indien, die ihre Hilflosigkeit, ihr Weinen und Schreien, mit Stiften und Zeichnungen zu beherrschen lernte. Die Wahrnehmung der Welt kann so unterschiedlich sein. Der Film veranschaulicht mithilfe von visuellen und auditiven Effekte die neurologische Diversität, poetische Kraft inklusive.
Es gibt Klänge, die Autisten schmerzen können, obwohl sie anderen Menschen als angenehm erscheinen. Auch umgekehrt ist das möglich. Da gibt es einen autistischen Jungen aus England, der aus größerer Entfernung das Rauschen der Stromverteilerkästen laut und klar hört – für andere sind das bizarre und kaum hörbare Töne.
Während für viele Menschen die Erinnerungen geordnet und miteinander verbunden vor dem inneren Auge erscheinen, können Autisten von Erinnerungen und Empfindungen überflutet werden. Dabei spielt es zumeist keine Rolle, ob die Erlebnisse mehrere Jahre oder eine halbe Stunde zurückliegen. Berichtet wird über sogenannte Obsessionen, wonach Autisten gewisse Handlungen immer wieder wiederholen. Sieht es von außen ungewohnt aus, begründet es sich doch darin, dass Autisten durch wiederkehrende Tätigkeiten oder Rhythmen beruhigt werden – so kann eine innere Ordnung hergestellt, so kann der permanenten Unruhe entflohen werden.
Der Film berichtet auch von den Leiden der Angehörigen, von den Panikattacken, von der Aggres- sion. Und er zeigt, wie es alle erleichtert, wenn es den Betroffenen gelingt, sich auszudrücken. So ermöglicht ein Buchstabenbrett dank digitaler Technik einen klaren und deutlichen Austausch, so beeindrucken zwei amerikanische Autisten mit kognitiven Fähigkeiten und anspruchsvollen Gedanken, die gerade deswegen so verblüffen, weil sie im krassen Gegensatz zu den Lauten stehen, die unfreiwillig aus dem Mund zu springen scheinen.
Der Film zeigt den emanzipatorischen Kampf eines Vaters, der im westafrikanischen Sierra Leone eine Schule für Autisten gegründet hat. Da gibt es Autisten, die in ihren Besonderheiten akzeptiert und entsprechend gefördert werden, die eine eigene Wohnung beziehen, einen Job antreten oder mit ihren Kunstwerken eine Ausstellung füllen können: „Auch wir wollen wachsen!“ Ein Zitat dieses faszinierenden und wichtigen Filmes hallt besonders lange nach: „Wenn ich Autismus ändern könnte: Ich würde ich selbst bleiben wollen. Für mich ist Autismus das Normale.“
Text: Mathias Schulze