Wenzel und Band, 7. Dezember, Leipziger Werk 2, 20 Uhr, Tickets: wenzel-im-netz.de
Wenzel, der mit Band am 7. Dezember im Leipziger Werk 2 spielt, legt mit „Das Allerschönste noch nicht gesehn“ ein weiteres meisterhaftes Album vor. Damit bleibt er der Fixstern am Liedermacher-Himmel. Wie macht er das nur? Mathias Schulze versucht es mithilfe von 2 Minuten und 53 Sekunden zu erklären
Es ist wie immer. Kaum liegt das Album „Das Allerschönste noch nicht gesehn“ im Briefkasten, landet es beim Verfasser dieser Zeilen selbst dann im Abspielgerät, wenn noch gar keine Zeit zum aufmerksamen Zuhören gegeben ist. Dann kommt es wie es kommen muss, die Musik wird ausgemacht, erst muss noch dies und das erledigt werden.
Kurz danach, mitten im alltäglichen Funktionieren, summt plötzlich eine Melodie durch den Kopf, plötzlich formen die Lippen Zeilen, die man bislang nur einmal hörte: „Diese Nacht ist uns gegeben / Halten wir uns daran fest, / Dass wir etwas lauter leben / Als man uns sonst lässt“. Wo kommt das her? Ach ja, stimmt: Das kommt vom neuen Wenzel-Album.
Musik als Sirenengesang. Nur dieser Ohrwurm ist so angenehm, es ist, als ob er einen trägt, als ob er einen vollständiger, tiefer und lebendiger macht, als ob dadurch das alltäglichen Funktionieren seines eindimensionalen Charakters enthoben wird. Wie heißt denn jetzt das Lied?
Später wird nachgeschaut, wird es noch einmal gehört. „Diese Nacht ist uns gegeben“ heißt es. Neben der eingängigen Komposition fällt auf, dass dieses Lied nur einen, aber einen ganz wesentlichen Teil des Wenzel-Schaffens abdeckt. An der Oberfläche klingt es schön und harmonisch, all die ausgezeichneten Musiker umgarnen jene Seelenschichten, die sich einen warmen Frieden, Schönheit, Versöhnung, Liebe und einen beseelenden Rausch wünschen.
Sirenengesang. Sofort wird man schwelgerisch an satte Farben, an das prall Lebenswerte, an die Gleichheit aller Menschen erinnert. Ein Sirenengesang. Eine Melodie in Form einer Utopie des Unsagbaren: Die tönt im Inneren fort, die fällt wie ein Klumpen Glück ins Herz. Ein Summen gegen den Dreck der Tage. Dann hört man genauer hin. Wenzels Stimme ist zerkratzt, heiser, aufgerieben, vom Leben gegerbt, von wollüstiger Verschwendung, von Lust und Enttäuschungen gefärbt. Wieder und wieder fangen die Instrumente das Geschundene ein, wieder und wieder gibt es ein liebevolles musikalisches Auffangen der menschlichen Achterbahnfahrten, immer bettet eine Harmonie die rauchige Stimme. Ein Kontrast, der nach Leben schmeckt. Stichwort Kontrast, da gibt es ja noch den Text. Während die Harmonie weiterhin alles trägt, bringen dritte und vierte Strophe gefühlte 1000 Nachrichtensendungen der letzten Jahre auf den Punkt. Engagement, Mut und die Lust am Aufbegehren inklusive: „Durch die Länder gehen Fronten, / Schneiden klein den Erdenball, / Staaten plündern ihre Konten / Für den großen Knall. // Und die Präsidenten lügen, / So als wärn wir blödes Vieh, / Doch wir werden uns nicht fügen / Dieser Idiotie.“
Ist das ein politisches Lied? Gar ein Protestsong? Wird hier agitiert, politisiert, verkopft gegen die Welt gerannt? Die fünfte und sechste Strophe gehen so: „Voller Wein sind noch die Flaschen, / In den Beinen schläft ein Tanz, / Lasst uns reichlich Leben naschen, / Daß wir hier sind: ganz. // Uns zu stärken, uns zu stützen, / Daß wir nicht geschlagen sind. / Sterne blinken aus den Pfützen / Hier im Abendwind.“
Ein Leben, das es zu naschen gilt, ein Tanz, der in den Beinen schläft. Und wir, das „blöde Vieh“. Wenzel kann es dreckig, Wenzel kann es schöngeistig, da liegen nur Sekunden dazwischen. Ineinander verflochten sind Melancholie, Verzweiflung, Aggressivität, Lebenslust, Aufbruch und Frieden, ineinander verflochten sind Sanftheit und Vulgarität, Poesie und Straßenköter- Jargon. Wie im echten Leben. Haben Sie in den politischen, engagierten und lebenssüchtigen Zeilen einen verbissenen Weltverbesserer, der die moralische Keule schwingt, gelesen, besser noch gehört? Spüren Sie die Offenheit der Verse? Hier hält jemand sein Publikum nicht für „blödes Vieh“, dem man alles direkt ausformuliert vorkauen muss. Hier verbeißt sich keiner in Formeln und Partei- Slogans, die vorgeben, die Welt retten zu können. Bewusstsein, Formulierungskünste, Sirenengesang. Ein Dialog mit uns. Erstaunlich ist es, dass in diesem Lied auch noch das feindliche und das liebevolle Verhältnis von Natur und Mensch seinen Platz findet. Von der Unsicherheit, von einer Verletzlichkeit jeder Idylle, von der möglichen Illusion einer vertrauten Gemeinschaft, vom Fragezeichen, welches sich nicht täuschen lässt, ganz zu schweigen.
Das Lied endet so: „Daß wir uns das Leben merken / Und die Hoffnung doch noch reicht, / Daß die Himmel uns bestärken / Diese Nacht vielleicht.“ Das große „Vielleicht“. Es liegt im Lied verborgen, es schlummert in der Harmonie. So wird der Geist wachgehalten, während die Seele Schönheit genießen kann. So bleibt die Realität konkret benannt und bewusst, derweil die Harmonie jenes Maß setzt, dass die Welt überprüft: Inwieweit ist die Utopie realisiert? Wie weit liegt sie fern?
Gleichsam als I-Tüpfelchen wird in der zweiten Strophe dann auch noch textlich die Utopie charakterisiert. Und zwar im poetischen Zusammenschluss von individueller und globaler Erlösung: „Denn das Glück wird uns zur Falle, / Wenn es nur für einen reicht. / Glück ist’s nur, wenn’s reicht für alle, / Diese Nacht vielleicht.“ Ein Meisterwerk, 2 Minuten und 53 Sekunden lang. Großartig! Dabei sind die anderen 13 Lieder, all die wilden punkigen Ausflüge und wunderbaren Liebeslieder, noch gar nicht erwähnt. Das wird nachgeholt, „diese Nacht vielleicht.“
Text: Mathias Schulze