Ralph Grüneberger – Lesung aus „Lieblingsplätze Sachsen“, 11. September, Druckkunst-Museum Leipzig, Nonnenstraße 38, 15 Uhr, alle Infos: www.ralphgrueneberger.de
Der Leipziger Schriftsteller Ralph Grüneberger ist nicht nur Ehrenvorsitzender des Vereins „Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik“, sondern auch ein Umtriebiger, der mit dem Kultur- und Reiseführer „Lieblingsplätze Sachsen“ und dem Roman „Lisa, siebzehn, alleinerzogen“ allein in diesem Jahr zwei Neuveröffentlichungen vorlegt hat. Und das ist noch längst nicht alles. Grund genug, bei dem Leipziger Autor nachzufragen
Hallo, Ralph Grüneberger, Sie haben 1951 in Leipzig das Licht der Welt erblickt. Das provoziert eine Frage, die wohl dieses Heft sprengt, aber dennoch gestellt sein soll: Wie nehmen Sie die Veränderungen in der Stadt wahr.
Ich bin so froh, dass der elende, erbärmliche Zustand, in welchem sich Leipzig im Zäsurjahr ‘89 befand, relativ schnell und sichtbar überwunden wurde, auch wenn es mich verstört, dass die privaten Eigentümer höchst selten Leipziger sind. Zudem erachte ich es als einen gravierenden Fehler, dass sogenannte „Steuergeschenke“ in Form von Sonderabschreibungen nicht einzig für innerstädtisches Bauen, das heißt für die Kultivierung von Brachen und die Schließung von Kriegslücken, ausgereicht wurden.
Und was ist eigentlich gleich geblieben?
Wenn ich mich so umschaue, weiß ich gar nicht, ob etwas gleichgeblieben ist. Eigentlich hat sich nach 1990 alles verändert. Ich könnte sagen: Die Hundeblumen sind geblieben. Was natürlich so auch nicht stimmt.
Sie gelten als Experte für Land und Leute in Leipzig. Wohlan, wie ist er „der Leipziger“?
Natürlich ist „der Leipziger“ ein Klischee und wurde von Hans Reimann und Lene Voigt bis zu Bernd Lutz-Lange ausgiebig beschrieben. Menschen aus meiner Kindheit wie die „Schalen-Else“, die für ihre Tiere auf den Höfen in unserem Viertel aus Kübeln Futter sammelte und von der es hieß, sie habe 40.000 DDR-Mark hinterlassen und keinen Erben gehabt, oder der Bürstenbinder, dem ich vom elterlichen Wohnzimmerfenster aus bei der Arbeit zusehen konnte, oder Frau Sauermann, bei der wir nach der Schule Gummischlangen kauften, haben mein Bild des „Leipzigers“ geprägt, um nur drei von ihnen zu nennen. Heute habe ich in meinem Umfeld vor allem Wahlleipzigerinnen und Wahlleipziger. Sie haben auf ihre Art für eine kreative Durchmischung gesorgt und diese fußläufige grüne Stadt bewusst als Lebensort gewählt. In meinem Buch „Leipziger Geschichten“ von 2020, eines, dessen Präsentation – das ging drei anderen Neuerscheinungen von mir eben- so – der ausgefallenen Buchmesse zum Opfer fiel, habe ich versucht, meine ganz eigenen Leipziger zu „erschaffen“. Und das gilt auch für das „Personal“ meiner früheren Gedichtzyklen wie die „Hanne Luhs“ oder „Die Stanzerin“ und das meiner Romane.
Wollten Sie irgendwann einmal woanders leben?
Nachdem ich sechs Jahre warten musste, ehe der Mitteldeutsche Verlag den Vertrag erfüllte und 1986 meinen ersten Gedichtband „Frühstück im Stehen“ veröffentlichte, war ich plötzlich privilegiert und durfte zu Poesie-Festivals in den Westen reisen. Ich war in Paris und Amsterdam und im Ruhrpott. Und tatsächlich hatte ich in Köln das Gefühl, das könnte eine Stadt für mich sein. Aber ich bin dann sehr schnell wieder nach Hause, nach „Beileipzig“, gekommen. Aus Wohnungsnot lebte ich ja viele Jahre vor der Stadt, das heißt in Markranstädt. Dort entstanden auch die „Beileipziger Elegien“. Erst 1995 konnte ich mich in Leipzig wieder einbürgern lassen.
In Ihrem Roman „Herbstjahr“ (2019) geht es um 1989. Auch der Roman „Lisa, siebzehn, alleinerzogen“, der im Februar dieses Jahres erschienen ist, dreht sich um das Ende der DDR. Wir haben schon einige Feierlichkeiten anlässlich „der Wende“ hinter uns: Fehlt Ihnen etwas im öffentlichen Diskurs?
Mir fehlt vor allem die Bescheidenheit. Dreißig Jahre sind weltgeschichtlich nicht viel. Gegenwärtig erleben wir nach dem von Russland begonnenen Eroberungsfeldzug in der Ukraine, dass ein paar Monate weltpolitisch quälend viel sein können. Es ist also schwer, die Geschichte zu gewichten. Aber ob sich der 9. Oktober als „Event“ anbietet, dem mag ich nicht zustimmen und versuche deshalb auf meine Weise eine Würdigung dieses gewaltlosen Aufstandes und lese, wenn möglich, immer wie- der aus „Herbstjahr“ während der Lichtfest-Tage vor. Natürlich trage ich mein DDR-Leben in mir und will es zur Sprache bringen – und das auf meine mir eigene Weise. Aber mit dieser Lebenserfahrung gehöre ich inzwischen einer Minderheit an. Von Sascha Lange habe ich gelernt, dass ein Drittel der 600.000 Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt Zugezogene sind, ein weiteres Drittel nach 1990 geboren ist und somit nur noch ein Drittel der heutigen Leipzigerinnen und Leipziger in die 1990 in Gang gekommene politische, kulturelle und wirtschaftliche Umgestaltung involviert ist.
Umso wichtiger …
… ist es, dass die historische Wahrheit nicht verfälscht wird und in Form von Zeitzeugenschaften und Dokumentationen in einem Haus des Gedenkkultur eine feste Heimstatt findet, und zwar eine, die nicht aus kurzfristigen, immer wieder in Frage stehenden Projektmitteln finanziert wird. Eine „Demo-Wippe“ oder ähnliches muss es für mich nicht sein. Ein äußeres Zeichen für das friedliche Aufbegehren haben wir mit der Säule auf dem Nikolaikirchhof bereits in Vollendung. Für mich ist dies ein Ort mit starker Symbolik und Anziehungskraft.
Damit spielen Sie auf einen Ihrer „Lieblingsplätze“ in Leipzig an. Einer von 50 in Sachsen. Denn ebenfalls im Februar ist Ihr Buch „Lieblingsplätze Sachsen“ erschienen. Wollen Sie dem schlechten Ruf Sachsens, das Stichwort heißt: „braune Hochburg“, etwas entgegensetzen?
Im Vorwort meines Buches habe ich es so formuliert: „Die Zeit der gesellschaftlichen Divergenzen hat in Sachsen bis heute ihre Fort- setzung gefunden. Und damit ist nicht nur Rühmliches zu nennen, was mitunter die Schlagzeilen bestimmt und unser großartiges Land kleinredet. Begriffe wie Pe-gida oder Connewitz sind Blinklichter fürs Rechts- oder Linksabbiegen, aber sie bestimmen nicht das Licht, in welchem ganz Sachsen steht.“
Im Februar 2021 ist auch noch das Buch „Enthält Kunstplatzierung! Gedichte & Miniaturen zur bildenden Kunst“ erschienen. Worum geht es da?
Das ist eine Sammlung von Lyrik und kurzen Texten zu Impulsen, die mir Kunstwerke und ihre Schöpfer gaben. Die Texte führen von Van Gogh bis Max Klinger, von Heinz Müller bis zu Neo Rauch. Die Vorzugsausgabe enthält passenderweise Originalgrafik von Bettina Haller, Rolf Münzner und Tobias Gellscheid, eine Künstlerin und zwei Künstler, deren Werke mich ebenfalls inspiriert haben. Und das Schöne ist, alle drei haben ihrerseits Grafik zu Texten von mir angefertigt.
Was ist das für Sie, das Glück?
Glück ist für mich Gesundheit, die eigene wie die mir naher und lieber Menschen, ein heller Tag, laue Luft, kein Lärm von Motoren oder Laubbläsern. Und natürlich mag ich Tage, an denen niemand an mir zerrt, an denen ich den Ton und das Tempo und die Genüsse bestimme und die Einflüsse, die mich bereichern.
Lassen Sie uns über Lyrik reden. Fällt der Name dieser Literaturgattung, fällt im Feuilleton sofort auch der Begriff der Krise. Stimmt das? Ist die Lyrik in der Krise? Wenn ja, worin liegt das? Und was kann ein Gedicht, was kein Roman der Welt zu leisten imstande ist?
Lyrik ist und bleibt eine besondere Gattung der Literatur. Gedichte lassen Leser Mitdenker, Mitfühler sein. Der gute, der gelungene Vers findet im Leser, der vornehmlich weiblich ist, einen Resonanzraum. Und was die Krise angeht, wäre sie leicht aus der Welt zu schaffen. Denn wenn nur eben so viele Menschen, die sich im Schreiben von Gedichten versuchen, Lyrikbände kaufen würden, um sich daran zu schulen, wäre das ein boomendes Genre. Verlage würden sich um Lyrikerinnen und Lyriker reißen, und der Absatz würde in die Zehntausende gehen.
In Leipzig …
… ist eine andere Art der Krise im Entstehen. In unserer Stadt, die im Übrigen als einzige im Osten Deutschlands eine Lyrikbibliothek unterhält, ist die zeitgenössische Lyrik akuter bedroht als anders-wo. Die Ausschreibungspraxis der Leipziger Städtischen Bibliothe-ken gibt vor, dass hiesige Buchhändler dasselbe Know-how mitbringen müssen wie Grossisten und den Zuschlag nur dann bekommen, wenn sie bei selber Leistung unter deren Preisen bleiben. Ein Verfahren, das zu Verlus- ten führen wird. Um zu überle- ben, werden die inhabergeführten Buchhandlungen ihr Sortiment radikal umstellen müssen und wohl zuerst die Lyrikecken verschwinden lassen.
Geben Sie uns eine lyrische Kostprobe?
In Anspielung auf die Bezeichnung „Bratwurstbude“, die der Kurzzeit-PEN-Präsident Deniz Yücel, nunmehr Initiator eines eigenen PEN-Clubs (in Gründung), für das „alte“ PEN-Zentrum in Deutschland gefunden hat, wähle ich dieses Gedicht aus. Geschah dies doch ausgerechnet im Bratwurstland Thüringen. Es ist das Titelgedicht aus „Die Saison ist eröffnet. Neue Gedichte“ (2016). Passt ja auch ganz gut in die gegenwärtige Grillzeit.
Legen Sie los!
Echte Thüringer Beißt Bratwurstkönigin Jana in die Wurst Eine orale Irritation, ist die Feier im Gange Das Grillfeuer entfacht, von den Rennsteigläufern Weitergegeben, Fackel um Fackel, für den Bratwurstolymp. Ob mit Majoran oder Kümmel, Knoblauch oder gar Einem Spritzer Zitrone. Die Saison ist eröffnet doch Eine Thüringer ist nicht gleich eine Thüringer Das gilt auch für die Thüringerin. Vereinigt glühen die Wangen, die Rezepturen Bleiben geheim. Außer den Klößen Werden Berge geboten und Musen Die zu besingen sich hier niemand scheut.
Wunderbar. Welche Pläne haben Sie gerade?
Bis Mai arbeitete ich an zwei Romanstoffen gleichzeitig und fühlte mich ziemlich schizophren. Erst vor kurzem habe ich mich dafür entschieden, den Großvater-Vater-Roman zurückzustellen, um mit der Fortsetzung meines Romans „Herbstjahr“ voranzukommen. Das zweite Buch, das erst einen Arbeitstitel hat, siedle ich 20 Jahre später, also 2009, an und stelle meine Protagonisten mitten ins Berufs- und Familienleben, das nicht bar von Konflikten ist. Inzwischen plane ich sogar eine Trilogie, die bis zur Corona-Pandemie führt. Aber da ich ein schrecklich langsamer Schreiber bin, ist das ein Lebenswerk. Ich muss also sehr alt werden, damit es kein leeres Versprechen bleibt. Das schließt natürlich ein langes Leben meiner hoffentlich weiterwachsenden Leserschaft ein.
Es gibt da auch noch einen ein-drucksvollen Film über die Könneritzbrücke, die die Leipziger Stadt-teile Schleußig und Plagwitz miteinander verbindet. Ein Film, den man auf YouTube sehen kann.
Mein Filmessay „Eine Brücke wie keine andere“ (Kamera, Schnitt und Ton: Patrick Wenig; Musik: Jörg Schneider, Sprecher: Axel Thielmann) ist quasi ein „Geschenk“ von Corona. Die Staatskanzlei des Freistaates Sachsen hat den Auftrag für ihr Format „So geht sächsisch“ im ersten Pandemie-Jahr vergeben. Sonst hätte ich das Thema filmisch wohl nie umsetzen können. Am 11. September wird der Film im Rahmen meiner Lesung im Druckkunst-Museum gezeigt.
Abschließend: Was wünschen Sie sich für das Leipzig der nächsten 50 bis 100 Jahre?
In erster Linie wünsche ich meiner Stadt kulturvolle, friedfertige Menschen, die das Ihre tun, unsere Stadt lebens- und liebenswert zu erhalten, und die stets die Leistung anderer achten. Je mehr wir einander wertschätzen, desto würdevoller ist unser Umgang miteinander. Doch eine solche Geistes- und Lebenshaltung sollte überall auf der Welt erstrebenswert sein. Und noch einen Nachtrag zum Glücksbegriff: Glück ist für mich immer auch Wahrnehmung, und das meine ich ambivalent. Deshalb vielen Dank für das Interview.
Text: Text: Mathias Schulze