„Pay attention!“, ab 28. Mai, Leipzig, alle Termine: www.schauspiel-leipzig.de
Das Schauspiel Leipzig erklärt die Stadt zur neuen Spielstätte. Die Langzeitbespielung „Pay attention!“ widmet sich im Mai dem Wandel im Stadtraum. Dabei erschließt das Theater ungewöhnliche Spielorte. Es gibt Inszenierungen, Konzerte und Gespräche, Stadtspaziergänge und Straßenbahnfahrten inklusive, wie Chefdramaturg Torsten Buß im FRIZZ-Gespräch erzählt
Hallo, Torsten Buß, das Langzeitprojekt „Pay attention!“ erklärt die Stadt Leipzig zur neuen Spielstätte. Die erste Frage liegt damit auf der Hand: Warum?
Wir alle kommen ja aus über zwei Jahren Pandemie: Als Theater waren wir dreimal über einen längeren Zeitraum hinweg ohne Publikum, haben aber als Haus, das mitten in der Stadt liegt, erlebt, wie leer auch die Innenstadt war, als die meisten Geschäfte geschlossen waren, die Museen, Cafés oder Kinos. Angesichts dessen hatten wir die Idee, nun unbedingt rauszugehen, hinein in die Stadt – und dabei auf die Spuren des Wandels dieser Stadt zu gehen
Die Folgen dieser Pandemie …
… sind dabei eine Spur – aber auch der Wandel, der zuvor eingesetzt hatte, gerade was das Verhalten und die Nutzung der Innenstadt betrifft. Und wir schauen auch weiter zurück und suchen, was eine Stadt wie Leipzig zuvor schon beeinflusst und verändert haben mag. Wichtig war uns dabei, dass wir diese Suche nicht allein betreiben: Diese Spurensuche wollen wir mit unserem Publikum, mit den Leipzigerinnen und Leipzigern unternehmen. Zwei dieser Projekte in „Pay attention!“ basieren stark auf Recherchen und Interviews. Und wir arbeiten für das Programm eng zusammen mit mehreren Partner-Institutionen – sei es in der Recherche oder als Vorstellungs- und Spielort. Wieder Verbindungen zu knüpfen und neue Begegnungen in der Stadt, war die zweite leitende Idee bei „Pay attention!“
Man will der Frage nachgehen, welche Formen von Begegnung zukünftig in einer Stadtgesellschaft vorstellbar sind. Mir fallen dabei die verschiedenen Klassen oder Schichten ein, die sich in Leipzig tummeln und deren Lebenswelten mitunter extrem weit voneinander entfernt sind. Fragt das Projekt, wie es hier eine gemeinsame Öffentlichkeit geben kann? Oder wie kann ich den Blick auf eine zukünftige Stadtgesellschaft verstehen?
Der erste Schritt ist, künstlerische Projekte zu stiften. Die aber darauf basieren, der Stadtgesellschaft zuzuhören und sie zu Wort kommen zu lassen. Gerade was den Audiowalk betrifft, der sich dem Wandel der Innenstadt widmet, aber das gilt auch für das Projekt „Matthäikirchhof“. Das wird beides sehr verschiedene Perspektiven, Meinungen, Sichtweisen ergeben, die sicher auch sehr voneinander entfernt sein können. Aber das gehört ja zu einer Stadt dazu. Gerade auch nach den letzten Monaten der Vereinzelung halten wir das für wichtig, sich die verschiedenen Lebenswelten einer Stadt wieder mal zu vergegenwärtigen. Sei es bezogen auf die Gegenwart, oder auch auf die Vergangenheit oder Zukunft. Und neben den künstlerischen Projekten gibt es im zweiten Schritt drei große Diskussionen über den Blick auf die Stadt, über die Anforderungen und Veränderungen. Mit sehr interessanten Gästen, die ihre Perspektiven beitragen.
Ein Blick in die Zukunft ist ohne Rückschau in die Vergangenheit schwerlich vorstellbar. Wie sieht die Rückschau von „Pay attention!“ aus?
Da haben wir das Projekt „Letzter Aufguss“ auf dem Areal Matthäikirchhof, das in der Sauna der ehemaligen Stasi-Zentrale spielt. Die Sauna-Räume gibt es tatsächlich noch. Aber auf diesem Areal schichtet sich zudem quasi Leipziger Vergangenheit wie selten sonst: Dort war die erste Stadt-Burg. Dann ein großes Kloster mit Handwerksviertel und städtischem Armenhaus. Das Kloster wurde dann Lazarett im Dreißigjährigen Krieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg eine Brache, baute dann die Stasi dort ihre Zentrale, die dann nach 1989 wiederum zunächst als Arbeitsamt genutzt wurde. Und die Stasi-Sauna wurde eine Gay-Sauna: All diesen Spuren nachzugehen, der Geschichte und den Geschichten, die an diesem Ort zusammenlaufen, das ist sehr spannend – und das wird der „Letzte Aufguss“ unternehmen. Zumal aktuell die große Diskussion stattfindet, wie es mit dem Areal städtebaulich weitergehen soll: Auch dort kreuzen sich wieder die Meinungen sehr stark.
Werden die Klimakrise und die notwendigen Anpassungen einer Großstadt daran eine Rolle spielen?
Wir wollen zunächst in den Fokus nehmen, was die Zeit der Corona-Monate in der Stadt verändert hat. Da gibt es die zunehmende Digitalisierung, zum Beispiel der Einkaufswelten. Das betrifft gerade die Situation der Innenstadt. Und es geht um Veränderungen generell, auch historisch. Wie haben sie die Stadt beeinflusst? Von daher ist an dem Punkt die Klimakrise nicht die erste Fragestellung. Aber wir werden sehen, ob und wo uns diese Frage nicht doch noch begegnet.
Erzählen Sie uns etwas über die „neuen“ Spielorte. Musste da umgebaut oder renoviert werden?
Nicht wirklich. Gerade die Räumlichkeiten in der ehemaligen Stasi-Sauna leben von ihrem aktuellen Zustand, der ziemlich viel von einem „Lost Place“ hat. Dort wird es installative Einbauten geben, mehr nicht. Und die drei Institutionen, an die wir mit bestehenden Inszenierungen gehen, das UT Connewitz, das Institut für Zukunft (IfZ) und das Stadtarchiv, haben wir gerade ausgewählt, weil sie atmosphärisch und inhaltlich zu den Inhalten der Stücke prima passen. Eine besondere Herausforderung für uns wird sicher das Projekt in Kooperation mit der LVB: „Linie 2072“ heißt es. Da agiert dann unser Ensemble auf Straßenbahn-Fahrten im ganz normalen Linien-Betrieb – und gibt eine Stadtführung auf das zukünftige Leipzig des Jahres 2072.
Die Langzeitbespielung klingt für mich so, als ob es am Ende neue Erkenntnisse geben kann – beispielsweise durch den Dialog mit dem Publikum, durch die Recherche der Künstler, durch einen „seismographischer Stadtspaziergang“. Ist es angedacht, gewisse Erkenntnisse nach Ablauf des Projektes festzuhalten? Oder sie vielleicht sogar den Instanzen der Stadtverwaltung mitzuteilen?
Wir hoffen, dass es neue Erkenntnisse gibt, auf jeden Fall. Und ja, wir sind sehr gespannt, was uns unsere Zuschauerinnen und Zuschauer vielleicht noch mitgeben an Eindrücken, an Meinungen, wenn sie diese Projekte dann sehen. Vielleicht haben wir nach „Pay attention!“ alle einen besseren Eindruck von unserer Stadt. Und ein anderes Bewusstsein. Das wäre schon viel. Aber erst einmal sollten wir abwarten, was sich an Eindrücken ergibt. Ich sehe das im ersten Schritt wirklich erst einmal als große Recherche.
Text: Mathias Schulze