Matthias Jügler – Lesung und Gespräch über „Die Verlassenen“, 24. Mai, Moritzburggraben Halle, 19 Uhr, Moderation: Katrin Schumacher, Tickets: www.literaturhaus-halle.de
Matthias Jügler, Jahrgang 1984 und in Halle geboren, studierte Skandinavistik und Kunstgeschichte in Greifswald und Oslo und Literarisches Schreiben am Literaturinstitut Leipzig. In seinem neuen Roman „Die Verlassenen“ stellt sich der Ich-Erzähler seiner ostdeutschen Kindheit. Die Schatten der Stasi reichen dabei bis in die Gegenwart. FRIZZ Das Magazin hat Matthias Jügler zum Gespräch gebeten
Über Ihren neuen Roman schreiben Sie auf Ihrer Homepage: „Ein System ist längst kollabiert, aber die Biografien der Betroffenen gehen weiter, und selbst die, die nur ihre frühe Kindheit in der DDR verbracht haben, so wie der Ich-Erzähler, müssen bis zum heutigen Tage mit den Folgen dieses Systems leben.“ Gilt das auch für den Autor?
In gewisser Weise gilt es auch für mich, weil ich, wie alle Nachgeborenen einer Epoche, die wirklichen Auswirkungen und todgeschwiegenen Schattenseiten erst entdecken musste. Aber was dem Ich-Erzähler zugestoßen ist, ist meiner Familie zum Glück erspart geblieben.
Wie erleben Sie die Folgen, beispielsweise im Kontakt mit Ihren Jahrgängen, die eine West-Sozialisierung durchlaufen haben?
Im Kontakt mit Menschen, die keinen DDR-Hintergrund haben, erlebe ich die DDR als etwas, das entweder nicht mehr interessiert, eben weil es lange her ist, oder als etwas Verkitschtes, Klischee-beladenes. In Leserbriefen, die ich bekomme, äußern sich Ostdeutsche und immer wieder kommt die Aufforderung, das Thema DDR doch endlich mal zu lassen und auch mal von den schönen Seiten der DDR zu erzählen.
Lassen Sie uns über den Roman reden.
Mein Roman „Die Verlassenen“ erzählt von den Auswirkungen eines autoritären Systems auf das Leben eines Menschen in unserer Gegenwart. Aber viele wollen das offensichtlich nicht – die Konfrontation mit der Schattenseite eines Systems. Das kann für ein paar Jahre oder Jahrzehnte helfen, Unangenehmes zu verdrängen – aber transgenerationale Weitergabe ist keine Erfindung, sondern für viele bittere Realität. Die Kinder der Stasi-Opfer leben bis heute damit, was ihren Eltern widerfahren ist.
Auf Ihrer Instagram-Seite sieht man den Roman mit einer Widmung für Wolf Biermann versehen, der 2014 alle linken Bundestagsabgeordneten als „den elenden Rest“, der zum Glück überwunden ist, bezeichnete. Teilen Sie diese pauschale Einschätzung?
Ich habe diese Debatte damals nicht mitbekommen und halte generell auch nicht viel von pauschalen Einschätzungen. Ich halte linke Politik in einer pluralistischen Demokratie für wichtig. Aus der Warte von Biermann heraus weiß ich aber, was er wohl gemeint hat, und auf welchen Teil er sich bezieht, auch wenn er pauschal wird. Auch bei meinen aktuellen Recherchen zum neuen Roman begegnet mir die Thematik immer wieder, dass Personen, die sich zu DDR-Zeiten an Biografien schuldig gemacht haben, heute noch auf Posten sitzen und Macht ausüben – und Betroffene sich deshalb ohnmächtig fühlen.
Schaut man sich Ihre Veröffentlichungen an, findet man Sie als Herausgeber der Anthologie „Wie wir leben wollen“ (2016), die nach Heimat und Identität fragt. Dann gibt es noch die Textsammlung „Wir.Gestern.Heute.Hier“(2020), deren historischer Blick erhellend für die krisengeplagte Gegenwart sein soll. Sind Sie ein (Ost)-Experte, der eine Tradition fortsetzt, die den „Wessis“ den Osten erklärt? Hilft Ihnen dieses eventuelle Label auf dem deutsch-deutschen Autorenmarkt?
Setze ich mich an ein Projekt, sei es eine Anthologie, die ich als Herausgeber ins Leben rufe oder ein Roman, dann zuallererst, weil mich das jeweilige Thema brennend interessiert. 2014, zwei Jahre bevor „Wie wir leben wollen“ erschien, verbrachte ich ein paar Monate im bayrischen Pfaffenhofen als Stadtschreiber. Ich sollte dort einen Text schreiben, der sich mehr oder weniger mit der Stadt befasst. Direkt neben meiner Wohnung war ein Jugendtreff – und dort sprach ich immer wieder mit syrischen Kindern, die mir vom Tod ihrer Eltern während der Flucht erzählten, so wie andere von einem langweiligen Schulausflug.
Erschütternd.
Absolut. Also interviewte ich für meinen Text auch Pfaffenhofener und befragte sie zu den Geflüchteten. Es stellte sich heraus, dass fast alle, ich meine wirklich fast alle, die ich befragte – ob junge Mutter mit Baby im Arm oder eine Schü-lerin – hemmungslos rassistische Meinungen vertraten. Seitdem wusste ich, dass ich etwas dazu machen wollte, literarisch. Und so entstand die Anthologie „Wie wir leben wollen“, in der unter anderem Saša Staniši, Inger-Maria Mahlke, Senthuran Varatharajah, aber auch ein Édouard Louis zu Wort kommen – sie haben mir mit ihren Texten Antworten auf Fragen zu diesem Thema gegeben, die ich allein nicht hätte finden können. Auch „Die Verlassenen“ habe ich geschrieben, weil die wahre Begebenheit, die diesem Roman zugrunde liegt, mich über zehn Jahre lang nicht losgelassen hat.
Eine intrinsische Motivation.
Ich kann und will nur über das schreiben, was mich selbst interessiert. Sonst könnte ich die langwierige Arbeit auch nicht überstehen, denn Geld gibt’s ja immer erst nach der Arbeit. Und die circa fünf Jahre, die ich an „Die Verlassenen“ geschrieben habe, musste ich mit anderen Jobs querfinanzieren. Was das Label angeht: Ich wünsche mir, dass viele Leute meine Romane lesen, ob aus den alten oder neuen Bundesländern, denn am Ende geht es ja nicht nur um ein Leben mit den Spätfolgen einer Diktatur, sondern generell um Verlust und Verrat – und auch ums Verzeihen.
Beenden Sie bitte diesen Satz: „Schreiben ist für mich …
… etwas, das mich immer wieder zu mir selbst führt.
Text: Mathias Schulze