Jenny Erpenbeck liest „Kairos“, 16. November, Literaturhaus, 19 Uhr, www.literaturhaus-halle.de
Jenny Erpenbecks neuer Roman „Kairos“ erzählt von einem verschwundenen Land und einer verschwundenen Liebe. Am 16. November gastiert die Schriftstellerin damit im Literaturhaus
Der Topos ist nicht neu. Älterer Mann liebt wesentlich jüngere Frau. Die straffere Haut genießt neugierig die Falten und Schattierungen des Lebens, der Mann fällt aus allen angelagerten Weltbildern noch einmal mitten hinein in die üppige Pracht der Naivität. Auf die Neugeburt, auf die bereichernde Erfahrung folgt der Entzug, der Schmerz, der Hass, die Gewalt.
Der Topos ist nicht neu. Nun hat ihn auch die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ostberlin, verarbeitet. „Kairos“ heißt der neue Roman, Erpenbeck verknotet gekonnt das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen.
Der Schriftsteller und Journalist Hans, ein 53-jähriger verheirateter Mann, trifft die 19-jährige Katharina in Ost-Berlin, es ist der Sommer 1986. Der Ort, die bald untergehende DDR, wird einmal so charakterisiert: „Immer dieselben Leute auf Feten, in Kneipen, bei Ausstellungseröffnungen oder Theaterpremieren. In so einem kleinen Land, aus dem man nicht ohne weiteres wegkam, lief alles zwangsläufig auf Inzucht hinaus.“
Hans, Sohn eines Nazis, bringt Katharina mit den kulturellen Schätzen in Berührung, von Ernst Busch über Heiner Müller und Christa Wolf bis zu Bach, Mozart oder Chopin ist alles dabei. Erpenbeck lässt die (Alltags)-Kultur der DDR auferstehen.
Wunderbar verzahnt sie die Sichtweisen der Liebenden, die auch im anfänglichen Rausch nicht unterschiedlicher sein können: „Alle diese Gedanken werden an diesem Abend gedacht, und alle zusammen ergeben die vielschichtige Wahrheit.“ Wunderbar werden die Fliehkräfte kombiniert: Da die enttäuschte Utopie einer besseren Welt, also will Hans die Erinnerungen festhalten. Da der Neubeginn nach ‘89, also will Katharina nach vorne leben.
Ein Treffen der Sehnsüchte, ein Treffen der Generationen, Schuldfrage inklusive. Und plötzlich ist ihre Heimat genauso verschwunden wie die Liebe. Die Schmerzen müssen verarbeitet werden. Das Toxische, das vereinte Deutschland beginnt. Ein Narr, wer die Vibrationen heute nicht mehr hört. Was sind das für Erinnerungen, die aus all den Briefen, Kalendern und Notizzetteln sprechen? Lassen sie sich noch zu einem sinnvollen Ganzen rekonstruieren?
Um den Lesegenuss dieses auch sprachlich so gelungenen Romans nicht zu stören, wird nicht zu viel verraten. Nur noch ein Zitat: „Dann löscht der Schlaf alle Gedanken aus, und was ihnen geschehen ist, wird ihnen, während sie ruhig atmend beieinander liegen, auf die Gehirnrinde geschrieben.“
Text: Mathias Schulze