„Van Gogh experience“, Leipziger Kunstkraftwerk, Saalfelder Str. 8, Öffnungszeiten: Do-So von 10 bis 18 Uhr, bis Ende April 2022, www.kunstkraftwerk-leipzig.com
Der Titel ist sperrig, die Ausstellung selbst ein Erlebnis: „Van Gogh Experience – eine multimediale immersive 360 Grad-Show“ ist derzeit im Kunstkraftwerk Leipzig zu sehen. Unser Fazit: Hingehen!
„Atmosphärisch und erlebnisstark.“ So steht es an den Wänden. Kaum betritt man die kühlen Hallen des Kunstkraftwerkes Leipzig, eines ehemaligen Heizkraftwerks, das 1992 stillgelegt wurde, reibt sich die Vergangenheit an der Gegenwart, purzeln Verheißungen ins Gemüt. Da das alte Gemäuer mit seiner ostdeutschen Historie. Dort die blinkenden Lichter, die Technik des 21. Jahrhunderts.
Die Hauptausstellung, parallel dazu laufen immer noch andere, nennt sich „Van Gogh Experience – eine multimediale immersive 360 Grad-Show“. Willkommen im Geflecht eines Kunstmarktes, der wohl schon immer mit innovativ anmutenden Begriffen operierte.
Doch worin besteht diese van Gogh-Erfahrung? Immerhin hat uns der Maler Vincent Willem van Gogh (1853–1890) mehr als 2.000 Werke, darunter etwa 900 Gemälde und 1.100 Zeichnungen, hinterlassen. Wie funktioniert die Immersion, also dieses Eintauchen in eine virtuelle Realität?
Eine Show ist 35 Minuten lang, in Lichtkreisen sitzt oder steht man hygienegerecht, 24 Laser- Beamer projizieren die Werke van Goghs an die bis zu acht Meter hohen Wände der Halle, Decke und Boden inklusive. Geschaffen wurde die Show von Gianfranco Iannuzzi, Renato Gatto, Massimiliano Siccardi und Luca Longobardi.
Gleich zu Beginn wird der Verdacht, einer selbstverliebten Technikspielerei, ausgeräumt. Ein Selbstbildnis des Malers betont sofort die Magie seines kraftvollen Pinselstriches. Es ist betörend wie diese van-Gogh-Augen, wie diese Blicke, auch heute noch, über die Jahrzehnte hinweg, zu uns sprechen können.
Dieser so offene, gequälte, misstrauische, traurige und zugleich neugierige Blick, der uns da in die Seele fällt, bezeugt nicht nur eine genaue Selbstreflexion, sondern überstrahlt auch die moderne Technik – so dient die Immersion den Gemälden, deren Intensität vorgeführt wird.
All die sich von vorn, von hinten, von überall ineinander schiebenden und über die Wände wandernden Meisterwerke werden mit Musik untermalt – das geht von der klassischen Note bis zur Moderne, von Edvard Grieg bis zu Janis Joplin.
Obwohl die Töne atmosphärisch unterstützend sind, bewirken sie erst durch die Farben, durch die expressive Malweise und den teils pointillistischen Stil einen tieferen Gesamteindruck. Obwohl man auf einen chronologischen Aufbau verzichtet, obwohl man die Verstümmelung des eigenen Ohres und die Nervenheilanstalt- Aufenthalte des Künstlers an Erklärtafeln in einen anderen Raum verbannte, formt sich ein intimer Einblick in das Schaffens van Goghs. Klischees gibt es woanders.
Egal, ob nun die berühmten „Sonnenblumen“, die „Kartoffelesser“, die „Caféterrasse am Abend“, die „Sternennacht“ oder das „Weizenfeld mit Krähen“: Es scheint, als würde man von der Farb- und Lebensintensität der Werke bedrängt, gepeinigt und extrem stimuliert werden.
Hat man jemals eine so üppig wuchernde Natur gesehen? Mithilfe der Technik bewegen sich die Lichter im Wasser, schweben die Blüten in die Lüfte, fliegen die Vogelschwärme durchs Bild und wachsen die Pflanzen so, als würden sie sich die menschengestaltete Erde wiederholen wollen.
Da gibt es die einfachen Leute in den einfachen Stuben, die prachtvollen Villen und Kirchen, die Städte und Landschaften, die Billardtische und Bars. Und diese Blicke! Da schaut uns ein Junge tieftraurig an, es ist, als würde er gänzlich unvermittelt mit uns sprechen, uns um Hilfe bitten. Dort straft uns der strenge Blick eines älteren Aristokraten, der neben der Maßregelung vor allem eins offenbart: sein eigenes Leiden an der auferlegten Autorität. Manchmal setzt die Musik Kontrapunkte, dann trifft ein entspannter Jazz auf die raue See.
Von van Gogh, der zeitlebens nur ein einziges Werk verkaufte (‚La vigne rouge‘, 1888), ist dieses Zitat überliefert: „Je hässlicher, älter, boshafter, kränker, ärmer ich werde, umso mehr suche ich die Scharte dadurch auszuwetzen, dass ich meine Farben leuchtend, wohlausgewogen, strahlend mache.“ Sein Werk so zu ehren, dass man nach 35 Minuten glaubt, diese von Farbintensität so durchdrungene und gequälte Seele verstanden zu haben, ist nicht weniger als ein großartiges Kunsterlebnis.
Text: Mathias Schulze