„Autobahn – Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum.“, erschienen bei Tropen-Verlag, 230 Seiten, 14,99 Euro
Da die Pandemie uns weiter im Griff hat, braucht es weiterhin gute Bücher. Doch was soll man lesen? Frizz-Redakteur Mathias Schulze empfiehlt Michael Kröcherts Essayband „Autobahn – Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum.“ Weiße Streifen auf blauem Grund, in der Mitte eine Brücke. Das Cover des Buches „Autobahn – Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum“, erschienen im Tropen- Verlag, ist eine Hommage an das vierte Studioalbum „Autobahn“ der Elektropop-Band Kraftwerk (1974). Nur zwei PKW hat Michael Kröchert noch hinzugefügt, klein ist ein Hinweis verzeichnet: Sachbuch.
Man sollte sich nicht in die Irre führen lassen, Kröchert, der ein Jahr lang auf den Straßen Deutschlands unterwegs war, um „das System Autobahn zu erkunden“, hat auf gut 230 Seiten mehr als eine nüchterne Bestandsaufnahme geschaffen. Kröchert ist eine unterhaltsame Reportage gelungen, die sich mit Poesie, Naturbeschreibungen, kulturellen Verweisen und mit Zeitzeugen-Stimmen zu einer philosophischen Betrachtung auswächst – Tragik, Humor, Mileustudien, Schwarz- Weiß-Fotografien und ein Porträt deutscher Gegenwartsverhältnisse inklusive.
Erstaunlich, was der Beton- und Asphaltbelag, der des Deutschen liebstes Kind mit Höchstgeschwindigkeit durch die Republik brettern lässt, alles zu erzählen weiß. Die Autobahn ist mehr als ein Sinnbild für Umweltzerstörung, mehr als ein Sehnsuchtsort der Freiheit, mehr als eine ideologische Waffe der Nazis: „Das ,Autowandern’, der Ausflug mit dem Auto in die Natur, war eine Erfindung der Nazis. Der deutsche Autofahrer sollte sich dabei mit der Heimat vertraut machen und identifizieren.“
Kröchert ist dabei, wenn die Autobahnpolizei einen Familienstreit am Heiligen Abend schlichten muss, er besucht die Anwohner, die unter Lärm leiden, er versucht während eines Staus Stimmen einzufangen und betrachtet die zähe Vegetation auf den Straßen. Kröchert gibt sich ganz dem Frust der Pendler und der Einsamkeit jener Fernfahrer hin, die für den Konsum in der globalisierten Welt sorgen. Er besucht eine Autobahnkirche und Aktivisten, die im Hambacher Forst dem Naturabbau trotzen.
Geschickt verbindet Kröchert seine Reise durch Ost und West mit historischen Eckdaten. Die Märzrevolution 1848, das Deutsche Kaiserreich, die Weltkriege, die Konzentrationslager, der Mauerfall, die Vertriebenen: die Straßen als die Blutbahnen der Nation. Ein trauriges, ein schönes Buch, das von der „Freundlichkeit der allermeisten Menschen“ und von einem zerrissenen Land berichtet. Ein Buch, das in jenen Zustand versetzen kann, den der Autor am Ende seiner Reise notiert: „Vermutlich hatte ich meine Seele nicht verloren, sie war nicht zerfetzt, sondern ich hatte mir unterwegs zu viele Seelen aufgeladen. Zu viele Geschichten. Zu viel Geschichte.“
Text: Mathias Schulze