„Kinder von Hoy – Freiheit, Glück und Terror“, bestellbar unter: suhrkamp.de
Grit Lemke war von 1991 bis 2016 für DOK Leipzig tätig, unlängst hat sie den wunderbaren Film „Gundermann Revier“ vorgelegt. Nun erzählt sie in „Kinder von Hoy“ die Geschichte von Hoyerswerda
Lesungen, überregionale Berichterstattungen und die Spiegel- Bestsellerliste. Da die Rezensionen, die davon berichten, dass die Autorin bei Auftritten wie ein Popstar gefeiert wird, dort die Online- Kommentare, die die „Kinder von Hoy – Freiheit, Glück und Terror“, erschienen im Suhrkamp-Verlag, als das „beste Buch über den Osten“ bezeichnen. Keine Frage, Grit Lemke, Jahrgang 1965, steht dieser Tage mit ihrem Leib- und Magenthema im Rampenlicht. Ein voller Terminkalender.
Schwierig ist es, Lemke, die ihre Zeit zwischen Berlin und Hoyerswerda aufteilt, ans Telefon zu bekommen. Hat man es geschafft, ist der kraftvolle Atem eines beglückenden Engagements schon in den ersten Sekunden zu spüren. Ob sie von der Resonanz überrascht ist? Schließlich hat sie schon mit dem Dokumentarfilm „Gundermann Revier“ (2019) von ihrer Heimat Hoyerswerda, von dem Modell „sozialistische Wohnstadt“ und der ostdeutschen Geschichte erzählt.
„Diese heftigen Reaktionen habe ich nicht erwartet, ich hatte eher Befürchtungen, dass das Buch wegen seiner ungewöhnlichen Form zwischen Belletristik und Sachbuch durch den Rost fällt“, sagt Lemke verwundert, um dann umso energischer jene Erklärungen nachzuschieben, die sie seit Jahren zu ihren Überzeugungen zählt: „Die Leute aus dem Osten finden sich nicht wieder, wenn ihr Leben in der DDR einzig und allein als Diktatur-Erfahrung erzählt wird.“
Was zu beweisen war. Es geht um Nuancen, um erlebte Erfahrungen, die ein Stasi- und Widerstandskämpfer-Narrativ verschluckt, verschweigt und entwertet. Auch die Reaktionen aus dem Westen bestätigen dies: „Einige schrieben mir, dass ich Ihnen eine Tür in eine Welt geöffnet habe, die bislang verschlossen war.“
Aber warum schreibt sie erst jetzt einen dokumentarischen Roman über ihre unbeschwerte Kindheit und Jugend in Hoyerswerda, über die Kultur- und Kunstszene um Gerhard Gundermann, über den Niedergang, die Wiedervereinigung und die Massenentlassungen, über die Nazis und Mitläufer und die Pogrome von 1991? Warum hat sie erst jetzt die Erinnerungen ihres Freundeskreises, alle stets im leuchtenden Dialekt, dokumentiert?
Lemke landet nicht absichtlich in einem Zeitgeist, der gerade eine genauere Art des Erzählens über den Osten umsetzt. Lemkes Gründe sind banaler, sie hat die letzten zwanzig Jahre alleinerziehend zwei Kinder in die Welt begleitet. Von ihrer Arbeit beim Leipziger Dokumentarfilmfestival (1991–2016) ganz zu schweigen. Lemke drückt es so aus: „Ich habe eine typische Frauen-Erwerbsbiografie.“ Heute sind die Kinder groß, heute hat sie genug Abstand, um das, was zeitlebens in ihr arbeitete, kunstvoll zu reflektieren.
Ihr Buch ist eine gelungene Collage – da der überzeugende Lokalkolorit, die genauen Beschreibungen, dort der Heimatdialekt und mutmaßlich längst vergessenen DDR-Begriffe, hier das Spiel mit geistesgeschichtlichen Referenzen, das Transzendieren der Geschichte ins Allgemeine: Der gescheiterte Aufbau Ost, das Projekt des DDR-Sozialismus. Vom modernen Plattenbau über einen rechtlichen und orientierungslosen Ausnahmezustand in den frühen 90er Jahren bis zur Tristesse danach, von der Schichtarbeit über das Desinteresse der Außenwelt bis hin zur Flucht vor den Nazis.
War wirklich alles falsch, was wir aufbauten, was wir lernten, was wir teils glaubten? Im Buch wird von einem „Wir“ geredet. Dieses Kollektiv sind Lemkes Weggefährten und Freunde. Konstituiert wird es durch die Solidarität in der Jugend, durch künstlerische Experimente und durch eine bleibende Wunde und Schuldfrage: Wie haben wir uns verhalten, als die Nazis die Vertragsarbeiter angriffen und die Nachbarn jubelten? Warum haben wir uns so verhalten, wie wir uns verhalten haben?
Die Lausitzerin ergänzt: „Das im Buch beschriebene Kollektiv definiert sich nicht nur über die Vergangenheit. Wir sehen heute noch die Welt sehr ähnlich, erleben heute noch ähnliche Ausgrenzungserfahrungen – die fehlende ostdeutsche Besetzung der Führungspositionen ist da nur ein Puzzleteil.“
Das Buch berührt noch einen anderen Punkt. Lemke kennt die Erfahrungen, die Sprache und die Weltbilder der großstädtischen Kulturszene genauso wie die der Alteingesessenen ihrer Heimatstadt. Die ökologische Krise und die Probleme des Strukturwandels in der Lausitz. Das Gendern und der fehlende öffentliche Nahverkehr auf dem Land, die Notwendigkeit eines Autos.
Man muss nicht über die so genannten „Lifestyle-Linken“ spotten oder sich moralisch über AfDWähler erheben, man kann auch die konkrete Lebenswirklichkeit ausbuchstabieren. Auch das beweist „Kinder von Hoy“, Lemke ist Teil einer Generation, die vermitteln kann. Wem das nicht reicht, der kann versuchen, die sportliche Frau mit dem Nasenpiercing, die gerade an einem Film über „unser slawisches Erbe“ arbeitet, entweder beim Inlineskaten in der Lausitz oder beim Joggen in der Hauptstadt ansprechen. Aufschlussreich wird es werden.
Text: Mathias Schulze