„Die Widersprüche sind unsere Hoffnung - Fotografien von Martin Jehnichen 1988–1990“, bis 26. Januar, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig
Der Osten kurz nach der Wende: Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig zeigt Bilder von Martin Jehnichen
„Helmut, nimm uns an die Hand, zeig uns den Weg ins Wirtschaftswunderland!“ Ein Plakat aus Umbruchszeiten. Gerade ist ein Staat zum Ende gekommen. Hoffnungen, Unsicherheiten. Und Widersprüche! Gleich daneben ist ein anderer Schriftzug zu lesen: „Helmi, go West!“ Willkommen zu einer sehenswerten Ausstellung, die Fotos von Martin Jehnichen aus den Jahren 1988 bis 1990 zeigt. Der Titel der Schau, der sich aus einem Brecht-Zitat speist, kann als Aufforderung zu einer geistigen Kraftanstrengung verstanden werden: „Die Widersprüche sind unsere Hoffnung.“ Und Schubladen-Denken zementiert eine Spaltung, ist man geneigt hinzuzufügen. Im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig braucht diese Art, sich über Vergangenheit und Gegenwart zu beugen, derzeit nicht abstrakt erarbeitet zu werden. Die aus dem Leben gegriffene Atmosphäre der 61 ausgestellten Schwarz-Weiß-Fotos hilft dabei. Jehnichen, der noch heute in der Messestadt lebt und 1962 in Karlsruhe geboren wurde, kam 1988 für ein Austauschsemester an die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Er begab sich auf eine Entdeckungsreise durch die zerfallende DDR: Leipzig, Erfurt, Dresden oder Zwickau. Aber auf welche Zeitreise schickt uns die Schau? Im Eingangsbereich beginnt es mit dem Foto „Weltmeister“ (siehe Foto zu diesem Artikel). Gerade hat die deutsche Mannschaft 1990 den Fußball-Olymp erklommen, schon feiern die Menschen auf den Straßen. Ein Autokorso vor dem Leipziger Hauptbahnhof. Jehnichen hat junge Männer eingefangen, die heute auf den Großteil ihrer Erwerbsbiografie zurückblicken können. Sind sie „alte weiße Männer“ oder zufriedene Großväter geworden? Man schaue sich diese jugendliche Frische, diesen leuchtenden Glanz in den Augen des Autofahrers an: Während sich die Welt um ihn herum neu strukturiert. Während seine Kollegen ausgelassen und scheinbar ungläubig ob all der Freiheiten mit Verkehrshütchen auf dem Kopf auf dem Dach des Kraftfahrzeuges sitzen, prangt ein rechtsextremes Symbol auf dem Ärmel eines Mitfeiernden. Die Baseballschlägerjahre, RostockLichtenhagen, Umbrüche, Chancen und existenzielle Herausforderungen werden kommen. Werden sie die offenen Augen, die vitalen und neugierigen Gesichtszüge des Autofahrers trüben, erweitern oder verzerren? Jehnichens Fotos sind wunderbar weit weg von den Politiker-Phrasen, von den ideologischen Zugriffen auf eine Zeit, in der das Alte auf das Neue trifft und das Individuum - mehr oder weniger aktiv - einfach nur mittendrin steht. Jehnichen hat Menschen eingefangen, die Bilder transportieren eine Sensibilität für tiefgreifende Transformationsprozesse. Da tragen Frauen noch ihre DDR-Kittelschürzen – derweil man schon die „Wahrheit“ der westdeutsche Zeitung mit den vier Buchstaben studiert. Da sieht man noch die maroden Wohnstätten – derweil sich schon schick gekleidete Investoren aus dem Westen die Goldgrube namens Ost-Immobilien anschauen. Endlose Trabi-Kolonnen strömen gen Westen – derweil sich Nazis mit Springerstiefeln ungeniert auf den ostdeutschen Straßen zeigen. Während Kinder auf dem Moped noch ohne Helm mitfahren, Jugendliche noch Häuser und Brachflächen zu Party-Räumen umgestalten, sieht man ehemalige DDR-Bürger schon auf Schulbänken sitzen - ganz vorn, an der Tafel, ein Westdeutscher, der die Welt erklärt. Tja, was bedeutet „Freiheit“ denn nun? Gezeigt wird auch das brutale Vorgehen der Polizei am 7. Oktober 1989 in Leipzig. Hofften die Genossen noch, dass sich das Volk ergeben zum 40. Jahrestag der DDR versammelt, knüppelte die Staatsmacht auf den Straßen schon auf Gegendemonstranten ein. Auch Jehnichen wurde verletzt, durch Zufall überlebten seine Fotos, noch am selben Tag fuhr er zurück in den Westen. Nach dem Mauerfall kam er wieder. Immer wieder durchziehen dynamische Momente die ausgestellten Arbeiten. Menschen laufen scheinbar orientierungslos kreuz und quer. Eindeutige Botschaften von „blühenden Landschaften“, von Ausländerhass oder Schriftzüge wie „Bundi, go home!“ hatten Hochkonjunktur. Man muss die Fotos nicht mit einem westdeutschen „Blick von außen“ bewerben. Sie haben allein genug Kraft, um einen historischen Blick zu stimulieren, der geschärfter auf die Gegenwart schauen kann.
Text: Mathias Schulze