„Dalí: Cybernetics”, bis Januar 2025, Leipziger Kunstkraftwerk, alle Infos: www.kunstkraftwerk-leipzig.com
Wer surreale Erfahrungen sucht, ist derzeit im Kunstkraftwerk Leipzig, das die multimediale Show „Dalí: Cybernetics“ zeigt, gut aufgehoben. Die Show über den spanischen Künstler Salvador Dalí ist eine unkritische Huldigung des wohl bekanntesten Surrealisten
„Er suchte obsessiv nach Wahrheit und Schönheit durch Wissenschaft und Inspiration.“ Ist man derzeit im Kunstkraftwerk Leipzig auf den Weg in die Maschinenhalle des ehemaligen Heizwerkes, die die neue Show „Dalí: Cybernetics“ zeigt, läuft man an didaktisch gemeinten Tafeln vorbei. Aufklärung und Einführung - das kann nicht schaden. Was ist noch zu lesen? Der spanische Künstler Salvador Dalí (1904–1989), einer der bekanntesten Surrealisten, sei ein „vielseitiger Visionär“ gewesen, der in „allen künstlerischen Disziplinen“ brillierte, seine (realen) Augen „spiegeln einen paranoiden, intuitiven Charakter wider, der sowohl poetisch als auch brillant ist“. Überschrieben sind diese Erläuterungen so: „Ein moderner Humanist“. Moment! Halt! Stopp! Und Obacht! Wer es eilig hat, läuft einfach weiter – mitten hinein in die 32-minütige Show. Wer sich noch vage erinnern kann, bleibt kurz stehen. Über Mythen und Künstlerklischees kann man hinweggehen. Aber hatte Dalí nicht seine Frau geschlagen? Hatte er nicht für Adolf Hitler geschwärmt, Sympathie für den spanischen Diktator Francisco Franco geäußert? Oder wurde er da missverstanden, war das alles nur Provokation? Gab es deswegen nicht zeitlebens heftigste Auseinandersetzungen mit Künstlerkollegen? Und was war das für ein gesellschaftlich-politisches Klima, in dem Dalí aufwuchs, in dem seine sexuelle Befreiung noch die Lehren Sigmund Freuds brauchte? „Hatte Dalí nicht für Adolf Hitler geschwärmt, Sympathie für den spanischen Diktator Francisco Franco geäußert?“ Es ist erstaunlich, dass das vom spanischen Kollektiv „Layers of Reality“ ins Kunstkraftwerk transformierte Projekt auf den Einleitungstafeln gänzlich ohne solcherlei Aufklärung und Einordnung auskommt. Um es auf den Punkt zu bringen: Das sind verstörende Versäumnisse, die heutige kritisch-reflexive Mindeststandards an eine Ausstellung gnadenlos unterlaufen. Zumal in der Haupthalle, während der immersiven Show, das Ausblenden an seine Grenzen kommt, das Konterfei des millionenfachen Massenmörders anlässlich des Gemäldes „Das Rätsel von Hitler“ (1939) doch noch auf dem Teller landet. Es bleibt zu hoffen, dass diese Dinge wenigstens im Kino-Bereich, in dem beispielsweise die Dokumentation „Dalí in New York“ gezeigt wird, aufgeschlüsselt werden. Um nachzuschauen, blieb bei der Presserunde verständlicherweise keine Zeit. Mit 3D-Brille geht es in die Haupthalle: Eine großflächige multimediale Auflösung der wichtigsten Werke, ein Ineinander der schmelzenden Uhren, der explodierenden Atombomben, der brennenden Giraffen, der Elefanten, die wie auf Stelzen zu gehen scheinen, ein mit Musik untermaltes Heranzoomen an die Gemälde „Der Brotkorb“ (1926) „Die Beständigkeit der Erinnerung“ (1931) oder „Leda Atomica“ (1949). Ein Spiel mit optischen Täuschungen, mit dreidimensionalen Effekten. Kunst und Technologie, Kunst und Quantenphysik, Psychoanalyse und Kybernetik. Beine und Brüste, religiöse Anspielungen und die verfremdeten Landschaften Kataloniens, geometrische Objekte und der Goldene Schnitt. Früchte, Tiger und KI-Sequenzen, die in ihrem wildem Farbrausch das Signifikante der DalíKunst dennoch erkennbar halten. Und zwischendrin erscheinen Kapitel-Überschriften: „Vierte Dimension“, „Heilige Geometrie“ oder - da ist es wieder - „Moderner Humanist“. In einem weiteren Raum, in der Kesselhalle, sind dann Kopfhörer und Virtual-Reality-Brillen aufzusetzen. Es empfiehlt sich schwindelfrei zu sein: Auf Deck eines Schiffes segelt man dem Abendrot entgegen, man gleitet durch Wüsten, durch eine Sternennacht, fliegt auf einem roten Sessel über eine spanische Großstadt, scheint durchs Himmelstor zu treten - derweil eine Atombombe explodiert, derweil diverse Tierwesen das Erlebnis flankieren. Im anschließenden „Sketch-&-Post“-Bereich gibt es die Möglichkeit, selbst zum Stift zu greifen: Das eigene Werk kann man scannen, es wird mithilfe von Computertechnik animiert und an die Wände projiziert. Oder man stellt sich einfach in der Selfie-Ecke ins angebrochene Riesen-Ei. Die Bedeutung, die es fürs Werk hat, muss man selbst entschlüsseln. Die in den oberen Räumen stattfindende Begleitausstellung „Conscious Dreams“, also „Bewusste Träume“, zeigt eine Auswahl von Design-Möbeln und Objekten, beispielsweise ein Kussmund-Sofa, ein RosenblattSessel oder einen Wandspiegel inmitten von Wolken, in dem man sich als Engel imaginieren kann. Ob diese vielfältigen surrealen Erlebnisse, wie im Pressetext versprochen, „die Exzentrik, Tiefe und das Visionäre des spanischen Jahrhundertkünstlers erfahrbar“ machen, ob sie „völlig neue Perspektive auf Dalís Meisterwerke“ bieten, darf jeder selbst entscheiden.
Text: Mathias Schulze