„Immer Ich – Faszination Selfie“, bis Januar 2022, Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr; Samstag, Sonntag und Feiertage von 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei, www.hdg.de
Die Ausstellung „Immer Ich – Faszination Selfie“ vergisst im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig wesentliche Aspekte der digitalen Bilderkultur
„Als Millionen über Millionen weltweit damit anfingen, sich selbst zum Bild zu machen, begann nicht weniger als eine neue Phase der Kulturgeschichte.“ In „Immer Ich – Faszination Selfie“, zu sehen bis Januar 2022, ist dieses Zitat vom Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich signifikant hervorgehoben. Nimmt man sie ernst, schärfen sich die Sinne: Was hat die Schau über diese so bedeutende Zäsur, über das Selfie also, mitzuteilen?
Am Eingang beginnt es vielversprechend, man läuft durch einen Spiegelwandtunnel, eine Flut von digitalen Selbstporträts brennt sich unter die Netzhaut. Im Tunnel verengt sich der Blick, die Popkultur singt ihre Selfie-Songs. Sofort stellt sich eine Überforderung ein, sofort prasseln Schlagwörter herab: „Manie“, „Sucht“, „Narzissmus“ oder „Maskerade“ heißen sie.
Heute, gut 20 Jahre nach dem Siegeszug des Smartphones, werden schätzungsweise 93 Millionen Selfies täglich produziert. Warum? Im ersten Abschnitt der Schau, die über QR-Codes Informationen bereitstellt, Videos und Bilder zeigt, wird die ungeheure Wirkung, die Selfies zeitigen können, hervorgehoben. Wir sehen Bilder des chinesischen Künstlers Ai Weiwei, der sich 2009 während seiner Verhaftung fotografierte und damit weltweite Sympathien errang.
Wir werden noch einmal daran erinnert, dass deutsche Zeitungen wie „Die Zeit“ oder „Die Welt“ vor mehr als vier Jahren ernsthaft darüber diskutierten, ob Angela Merkels Selfies mit einem syrischen Asylsuchenden zum sogenannten „Flüchtlingsstrom“ beigetragen haben.
Ja, so ein Selfie kann wirkungsmächtig sein, es kann Politiker mit der Aura der Volksnähe ausstatten. Aber kann es auch Demokratie und Menschenrechte fördern? 2015 setzten sich viele Menschen im digitalen Raum eine Schweinemaske auf, um gegen die betäubungslose Ferkelkastration zu demonstrieren. Das Verbot dieser Tierquälerei folgte erst in diesem Jahr.
Das Phänomen des Selfies wird heute nicht ohne Verweis auf die Kulturgeschichte der Selbstporträts präsentiert – so auch hier. Ist es nicht ein zivilisatorischer Fortschritt, dass sich heute ein jeder mit Smartphone in der Hand porträtieren kann? Warum sollte das nur den Rembrandts, Dürers, van Goghs oder Frida Kahlos vorbehalten sein?
Die Schau warnt vor den „Killfies“, so werden Selfies genannt, die in gefährlichen Gebieten den Tod nach sich ziehen. Zudem stellt sie sogar zwei Selfie-Stationen zur Verfügung, an denen man sich beispielsweise in exotischen Gefilden ablichten lassen kann. Und dann ist dieses Influencer-Zitat zu lesen: „Als es nur wenige Likes gab, war mein Urlaub gelaufen.“
Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob die Jagd nach dem perfekten Foto die analoge Welt vergessen lässt. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es neben moralischen Fehltritten (Selfies am Holocaust-Mahnmal, in Tschernobyl oder an Unfallstellen) und Körperkult auch Bilder gibt, die die egomanische Sphäre überwinden – so zeigen Selfies aus dem Bürgerkrieg in Syrien der ganzen Welt die realen Grausamkeiten, so können sich Prominente beispielsweise als Transgender outen und für Toleranz werben.
Emsig reiht die Ausstellung diverse Phänomen aneinander. Hier die Geschichte des Fotografen David J. Slater, an dessen Affen- Selfies entschieden wurde, dass Tiere keine Fotorechte haben könnten. Da ein historischer Exkurs zum Kamerahersteller „Minolta“, der 1983 für einen Selfie-Stick noch verspottet wurde. Dort heutige Kuriositäten wie beispielsweise ein Selfie-Stick mit unglaublichen zehn Spiegeln.
Aber ist das Selfie nicht nur ein Teil jener Digitalisierung, die nach Demokratie- und Menschenrechtsförderung abzuklopfen wäre? Wie funktioniert das Geschäftsmodell der digitalen Plattformen? Wie kann man deren Steueroasen austrocknen? Welche Rechte und Pflichten haben sie? Welche politischen Wahlen können sie wie beeinflussen?
Das Selfie, die Digitalisierung insgesamt, hat vielleicht eine „neue Phase der Kulturgeschichte“ eingeläutet – man kann sie aber nicht ohne eine neue Phase der Konzerngeschichte verstehen. Ebenso versäumt die Schau all die Auswirkungen auf die Psyche, das Leiden unter Schönheitsidealen. Was sind das für gesellschaftlichpolitische Verhältnisse, die zu einem Selfie-Boom, zu einem Siegeszug des „Ichs“ einladen? Und wie steht es eigentlich um die Klimabilanz eines jeden hochgeladenen Bildes? Zweifelsohne, zwischen den bunten Wänden der Ausstellung wird man gut unterhalten. Hinreichende Aufklärung über die „Faszination Selfie“ gelingt jedoch nicht.
Text: Mathias Schulze