„#DeutschlandDigital“, bis 3. Oktober 2022 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig in der Grimmaischen Straße 6, Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr; Samstag, Sonntag und an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei
Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig beleuchtet die Auswirkungen der Digitalisierung in Deutschland. Mathias Schulze hat sich die Schau „#DeutschlandDigital“ angesehen
Verblassende Erinnerungen, eine heute lächerlich anmutende Grafik, 50 Pfennig und ein un- zeitgemäßes Piepen und Tuten: „Dü, dü, dü, diep“. Gleich neben dem Eingang der Ausstellung „#DeutschlandDigital“, die der- zeit im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu sehen ist, kann man einen Poly-Play, der damals einzi-ge Videospielautomat der DDR, bestaunen. „Hase und Wolf“ kann man dort spielen, für diejenigen, die im Osten aufgewachsen sind, kann das nach Ferienlager, nach Club-Cola und einem diffusen pubertären Freiheitsgefühl schmecken. Und was ist das für ein Kontrast zu eben jenem digitalen Fortschritt, der in der Schau veranschaulicht wird! Von der Ästhetik ganz zu schweigen. Betritt man die Ausstellung, steht man inmitten der Moderne, durchsichtige Wände symbolisieren den immateriellen Charakter der Digitalisierung. Das Ferienlagergefühl des Poly-Plays trifft auf autonom fahrende Autos, auf bargeldloses Bezahlen, auf den digi-talen Klingelbeutel, auf Fake News oder auf eine mit Sensoren bestückte Kuh – mit dem sogenannten „Smart-Farming“ soll die landwirtschaftliche Effizienz gestei-gert werden. Die 50-Pfennig-Zeiten sind vorbei. Die Ausstellung spannt den historischen Bogen vom ersten deutschen Computer, den der Bauingenieur Konrad Zuse 1941 in Berlin präsentierte, bis zur Gegenwart. Wirtschaft und Arbeit, Alltag und Privatleben, Politik und Gesellschaft – überall in Deutschland hat die Digitalisierung für tiefgreifen-de Veränderungen gesorgt. In der DDR, an der TU Dresden, wurde 1969 der erste Informatik-Studiengang installiert. Ausgestellt ist Paul Michaelis Ölgemälde „Vier von der Jugendbrigade ,Albert Einstein‘ am Robotron 300“. Während im Osten der Sozialistische Rea- lismus die Computerentwicklung flankierte, begleiteten im Westen konservative Klischees die elektronische Revolution. Da sieht man Jobausschreibungen aus der BRD der frühen 70er Jahre. So soll die neue Arbeit am Rechner, die Buchhaltung und Lohnabrechnung, leicht und einfach, also eine perfekte Frauenarbeit sein. 2021 hingegen lag der Frauenanteil in der IT-Branche nur bei 18 Prozent. Die Schau geht mit mehr als 400 Objekten, Fotos und Medienstationen auf die Chancen und Risiken der Digitalisierung ein. So können beispielsweise Sehbehinderte dank einer Kamera an der Brille, dank Künstlicher Intelligenz (KI), ihre Lebensqualität deutlich steigern. Auf der anderen Seite machen uns Suchmaschinen, Onlineshops und soziale Netzwerke mit ihren Tracking- und Analyse-Tools zum „gläsernen Menschen“. Die Netzaktivistin Katharina Nocun forderte 2018 vom US-amerikanischen Onlineversandhändler „Amazon“ eine Kopie der über sie gespeicherten Informationen. Nach wochenlanger Beharrlichkeit bekam sie ihre festgehaltenen Daten der letzten 14 Monate. Würde man die Papiere ausdrucken, wäre der Stapel 1,70 Meter hoch! Alles, was wir online tun, wird registriert, verarbeitet und ausgewertet. Alles! Während man noch Fotos sieht, die zeigen, dass schon in den 90er Jahren auf Beerdigungen mit dem Game-Boy von Nintendo gespielt wurde, hört man von einer Medienstation Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) laut in den Raum rufen: „Die Zukunft der Demokratie wird im Netz entschieden!“ Trotz dieses Hinweises gelingt es der Ausstellung nicht, die Geschäftsmodelle der digitalen Giganten wie Amazon, Google oder Facebook angemessen zu durchleuchten. Auch die Frage, ob das Geschäft solcher Unternehmen überhaupt mit einer fortschrittlichen Demokratie vereinbar ist oder ob sie nicht sogar faktisch an deren Abschaffung arbeiten, wird leider nicht gestellt. Wäre ein Mann wie Donald Trump ohne die sozialen Netzwerke jemals Präsident der USA geworden? Die Digitalisierung gibt es nicht: Es gibt Unternehmen und Konsumenten. Zu fragen ist, wer in welcher Weise vom technischen Fortschritt profitiert. Diese genaue Fokussierung gelingt der Schau nicht, dafür kann man am Eingang eine Chipkarte ziehen, die an diversen Medienstationen allerlei Interaktionen ermöglicht. So kann man mit der Künstlichen Intelligenz „Eliza“ psychotherapeutische Gespräche führen, so kann man ältere Videospiele wie „Donkey Kong“ erkunden, so kann man Quizfragen beantworten und damit sein digitales Selbstverständnis reflektieren. Für eine zu exzessive Smartphone-Nutzung hat die Schau einen klugen Tipp parat: Es gibt gänzlich analoge Smartphone-Nachbauten mit Kügelchen, an denen Entzugserscheinungen therapiert werden können, an denen die Finger genauso spielen können wie am digitalen Endgerät.
Text: Mathias Schulze